Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
erfrorenen Beine hat abnehmen müssen. Die Gesichter waren erfroren und zum Teil abgefault, und alle diese Unglücklichen schreien: Ach! Hospital! Eine Stube! Ich will sterben – Tausende schreien so, aber – wer kann da helfen? O des Jammers! Man sah die sonderbarsten Anzüge; atlassene Enveloppen mit Caponchons und einen Helm mit Pferdeschweif auf dem Kopfe (solche Helme trugen die französischen Kürassiere und Dragoner) . Die meisten tragen Bauernkittel oder Pelz, alte Kappen, mitunter auch türkische Schals waren um die Mützen gebunden. Dragoner kamen mit bloßen Füßen, die von Kälte ganz schwarz waren, und führten sich 3 oder 4 bei der schrecklichsten Kälte ganze Nächte hindurch und fanden selten Obdach. Gestern ging die ganze sächsische Kavallerie durch, sie bestand nur aus 3 Schlitten voll Offiziers, in Betten gepackt, sämtlich mit erfrorenen Füßen – einigen waren solche schon abgenommen. Dabei befanden sich 13 Gemeine. Unter den Offiziers waren Bekannte von uns. Von den württembergischen Truppen, 13 000 Mann stark, kamen ungefähr 10 Offiziers und 100 Gemeine verstümmelt zurück. Es waren viele von den Offizieren bei uns, unter andern ein Oberster Carnotte (wahrscheinlich Major Cornotte, Kommandeur des 1. Leichten Infanterie-Bataillons) , der 5 Tage bei uns geblieben, um auszuruhen. Er war ganz unkenntlich ausgehungert und zerrissen. Ich habe ihm noch Wäsche mitgegeben. Er behauptete, es sei ein vergeblicher Versuch, jemandem das Elend zu schildern, das sie erduldet hätten. Einige Fragmente, die er uns mitteilte, machten uns schaudernd. Man hat nicht allein Pferdefleisch gegessen, sondern viele haben an den Leichen ihrer Kameraden sich gesättigt. Auf der Straße nach Kowno, wo kein Einwohner, kein Obdach zu finden gewesen, haben die Erfrorenen so haufenweise gelegen, daß man über sie weg den Weg hat nehmen müssen, und die Halbtoten sind von denen, die ein ähnliches Schicksal zu befürchten hatten, nackendausgezogen worden. Der Anblick, wie diese Halbtoten das Entkleiden noch zu wehren gesucht, sei schauderhaft gewesen. Carnotte versichert, er werde nie wieder schlafen können, ohne daß dies fürchterliche Bild ihm vorschwebte.
Den 28. Dezember. – Gestern ward ich unterbrochen von einem Bauern, der um Gottes willen bat, einen Offizier, der nicht weiterkommen könnte und ein Deutscher sei, nur für eine Nacht aufzunehmen. Ich habe Rat geschafft. Es ist ein Herr von Röder, 18 Jahre alt, wie ein Skelett ausgehungert und in die eine Lende schwer blessiert, wo die Kugel noch sitzt, und hat dabei das Fieber. Ihn begleitet sein Bedienter. Hunger und Fieber haben ihn so mitgenommen, daß er sich nicht bewegen kann. Er hat noch nichts gesprochen als Laissez-moi en repos (Lassen Sie mich in Ruhe), kein Auge aufgeschlagen und ist nicht zu bewegen, ins Bette zu gehen.
Ein Sergeant-Major, der die Leiche (des Artillerie-Generals) Lariboisière begleitet hat, erzählt, daß das Elend und die Greuel, die er erlebt, alle Vorstellung der lebhaftesten Phantasie weit übersteigen. Ein großer Teil der fast von Hunger aufgeriebenen Menschen wären, ehe sie ein Raub des andern geworden, in Raserei und Wut verfallen und hätten sich wechselseitig wie wütende Tiere angefallen. Er selbst fürchtet für seinen Verstand. Denn diese Bilder des Schreckens schwebten ihm immer noch vor Augen. Er habe auch noch bis diese Stunde fast gar keinen Schlaf, denn wenn er ganz erschöpft einschliefe, so erschienen ihm im Traum alle diese Szenen des Blutvergießens, des Elends und der Verzweiflung in so gräßlichen Bildern, daß er gleich wieder erwache, Licht anzündete und wieder wach bleibe.«
Inzwischen hatte sich im Norden der Front, beim 10. Armeekorps im Baltikum, die Lage grundlegend geändert. Nachdem Wittgensteins Truppen das 2. und 6. Korps an der Düna zurückgedrängt hatte, war dem 10. Korps der Schutz seiner rechten Flanke verlorengegangen. Am 19. Dezember hatteMarschall Macdonald den Rückzug auf die preußische Grenze befohlen, nachdem zwei Tage zuvor ein russischer Vorstoß das von dem preußischen Generalleutnant Hans David Ludwig Graf Yorck geführte preußische Kontingent vom übrigen Teil des Armeekorps abgetrennt hatte. In persönlichen Verhandlungen zwischen Yorck und dem russischen General Karl von Diebitsch, einem gebürtigen Preußen, wurde dann am 30. Dezember in der Mühle von Poscherun eine Übereinkunft getroffen, worin sich das preußische Kontingent für neutral erklärte und damit
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