Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
von den 2. westphälischen Husaren, der als einziger alle seine Musiker überlebt hatte, fand erst in Warschau Gelegenheit, seine Erfrierungen zu pflegen, sich gründlich zu waschen und endlich frische Kleidung anzuziehen. »Fast sieben Wochen hatten wir die Leibwäsche nicht wechseln können und saßen voll Ungeziefer. In welchem Grade dies der Fall war, geht wohl daraus hervor, daß der Jude, der uns die frische Wäsche usw. überbrachte und uns natürlich scheußlich prellte, sich weigerte, meinen Pelz, Dolman mit Silber verbrämt usw. an Zahlungsstatt anzunehmen. ›Selbst wenn der Herr es mir schenkt‹, sagte er, ›nehme ich es doch nicht.‹ Nun, verdenken konnte man es ihm wohl kaum. Denn die Kleider bewegten sich fast von selbst, so wimmelten sie von Ungeziefer.«
In Karga wurde Klinkhardt von dem dortigen Stadtmusikdirektor aufgenommen: »Ich stellte mich als Kollegen vor; er kehrte sofort mit mir um und übergab mich seiner Frau mit den Worten: ›Mutter, hier bring ich dir einen westphälischen Musikdirektor, nimm ihn gut auf!‹ Die Frau erschrak, und ihreacht Kinder staunten mich auch nicht wenig an. Trotz alledem nahm sich die Familie meiner mit der größten Liebenswürdigkeit an. Nachdem ich meinen Hunger gestillt, mußte ich natürlich von meinen Erlebnissen erzählen, bis ich fast einer Ohnmacht nahe war. Die Frau und die ältesten Kinder weinten bittere Tränen des Mitgefühls bei den Schilderungen meiner Leiden. Bald fanden sich auch Nachbarn ein, die lutherische Geistlichkeit erbarmte sich meiner, und so bekam ich so viel Unterstützung, daß ich meinen lieben Gastfreunden wenigstens pekuniär nicht lästig zu fallen brauchte. Abends brachte man mich in ein sauberes Stübchen mit einem reinlichen Bette. Meine Bitte, mich im Stalle schlafen zu lassen, wollte niemand Gehör geben, bis ich endlich mit der Sprache herausrückte und von meinen Tausenden von Mitbewohnern erzählte. Doch auch hier fand man Rat. Ich wurde gebadet und vollkommen mit sauberer Wäsche ausgestattet, konnte aber trotzdem nicht schlafen, meine erfrorenen Gliedmaßen fingen entsetzlich an zu schmerzen, und dazu stellte sich Fieber ein. An Aufstehen war am anderen Morgen nicht zu denken. Ich beunruhigte mich sehr darüber, weil ich die Last meiner Pflege den braven Leuten nicht auflegen wollte. In liebreicher Weise wurde ich aber getröstet. Der liebe Gott, so meinte Herr Schröter, habe mich in sein Haus geführt, und man würde schon für mich sorgen. Glücklicherweise gab sich das Fieber bald, und nun wurde zur Heilung meiner Frostschäden zur Schneekur geschritten. So schmerzhaft solche auch war – ich mußte bis zum Schmelzen des Schnees zwei Stunden in einer Schneepackung liegen –, so heilsam war sie für mich, und bald war ich imstande, an zwei Krücken in das gemeinschaftliche Wohnzimmer zu humpeln, wo Alt und Jung sich bemühte, mir gefällig zu sein. Meinen Dank konnte ich zum Teil dadurch abstatten, daß ich den zwei ältesten Söhnen und der zwölfjährigen Tochter Musikunterricht erteilte, was mir und den Kindern, die sämtlich, besonders aber das Mädel, hübsches Talent hatten, viel Vergnügen bereitete.«
Lange sollte Klinkhardt nicht bei der ihm so wohlwollenden Familie bleiben. Eines Tages wurde er von der Polizei abgeholt und zum Militärkommandanten gebracht. Der ließ sich erst Klinkhardts Kriegserlebnisse erzählen und fragte ihn schließlich, ob er Violine spiele? »Auf meine bejahende Antwort ließ er zwei Geigen bringen, und ich mußte ihn nolens volens akkompagnieren. Mein Spiel schien ihm sehr zu gefallen, er ließ eine Flasche Ungarwein holen und trank mit mir. Schließlich meinte er: Du bist ein guter Musikant; ich werde dich dem Grafen von Unruhe empfehlen.« Nachdem Klinkhardt noch am selben Tag bei Graf von Unruhe, der ihn in einem Schlitten abholen ließ, eingetroffen war, sollte er sofort Quartett spielen. Klinkhardts Verweis auf seine noch nicht geheilten Finger ließ der Graf nicht gelten; »es half aber nichts, und richtig wurde ein Quartett zusammengebracht. Der Graf spielte erste Violine, sein Wirtschaftsinspektor, ein Herr Domke, zweite, ein anderer Baron von Unruhe, der Schwager des Grafen, Viola und ich Violoncell. Ich biß die Zähne zusammen und litt bitterste Schmerzen. Endlich bemerkte das der Graf, wir hörten auf, und ich erhielt einen Louisd’or geschenkt. Beim Weggehen eröffnete mir der Direktor, der Graf wolle mich von seinem Arzte vollständig auskurieren lassen,
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