Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
würde mir Kost gewähren und Miete bei Schröters für mich bezahlen, nur solle ich mich verpflichten, alle Abend mit ihm im Schlosse Quartett mitzuspielen. Auf meine Entgegnung, ich sei Soldat und müsse nach meiner Heilung mich in Aschersleben melden, erwiderte man: Darum kümmern Sie sich nicht, der Arm des Grafen reicht weit, außerdem gibt es wenige gute Quartettspieler, aber viele Soldaten.« Klinkhardt hatte Glück. Beim Grafen wurde er nun vortrefflich versorgt, auch mit Wäsche, Kleidung und Schuhen ausgestattet. Er bekam sogar ein »monatliches anständiges Taschengeld« und gab noch im Ort Musikstunden. Bis ihn eines Tages doch noch der Befehl erreichte, sich zu seinem Regiment zu verfügen.
Joachim Murat hatte sich am 17. Januar in Posen verabschiedet,um nach Neapel zu reisen und dort wieder König zu sein. Zu seinem Nachfolger als Oberbefehlshaber bestimmte er Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais. Als erstes hatte er die Reste der Grande Armée, die sich nach und nach hier einfanden, darunter 1500 Westphalen von 24 000, nach ihrer alten Zugehörigkeit neu zu organisieren. Daß dies nicht unter dem Druck russischer Verfolgung geschah, worauf schon Klinkhardts angenehme Sinecure in Karga verweist, hatte damit zu tun, daß auch die russische Armee am Ende ihrer Kräfte war. Selbst wenn ihre Verluste die der Grande Armée nicht erreichten, so waren sie doch empfindlich hoch. Von Wilna aus hatte Kutusow am 19. Dezember dem Zaren in einem Brief gestehen müssen, seine Verluste seien so außerordentlich, daß er sie sogar vor seinen eigenen Offizieren verheimlichen müsse. Als Napoleon am 19. Oktober Moskau verließ, zählte Kutusows Armee noch knapp 110 000 Soldaten, und es wurde ihr unablässig Verstärkung zugeführt. Laut Kutusow waren genau zwei Monate später davon noch 42 000 einsatzfähig. In Wilna blieben gerade noch 27 464 Soldaten übrig. Wittgensteins Armee, die im Oktober eine Stärke von 35 000 Soldaten aufgewiesen hatte, besaß jetzt nur noch 15 000. Von den vereinigten Korps von Tormassow und Tschitschagow, die zusammen 64 000 Mann ausgemacht hatten, waren nur noch 17 000 kampffähig. Das Korps des Generals Friedrich Oertel war von 12 000 auf 7000 geschrumpft. Allein zwischen der Beresina und Wilna kamen 90 000 russische Soldaten ums Leben. Die russische Armee war schlecht ernährt, miserabel gekleidet und erschöpft. Hinzu kamen die sich schon vor der Einnahme Wilnas beängstigend schnell ausbreitenden Seuchen Typhus und Fleckfieber. Generalstabsoffizier Friedrich von Schubert beschönigt die Lage der russischen Armee, wenn er sagt: »Bei uns hatte diese fürchterliche Krankheit (der Typhus) doch nicht die abscheulichen, scheußlichen Symptome, die sie bei den Franzosen hatte, denn unsere Soldaten hatten weniger Entbehrungen erlitten, wurden, sobald siekrank wurden, in die Hospitäler gebracht und nach Möglichkeit gut gewartet und gepflegt.« Gewiß, »nach Möglichkeit«. Was aber nicht gesagt wird: Das gesamte Sanitätswesen der Russen war dem ohnehin schon dürftigen der Franzosen weit unterlegen, und das verwüstete Land zwischen Moskau und Wilna, dessen Städte meist von den Russen selbst eingeäschert worden waren, bot wenige Gebäude zur Einrichtung von Lazaretten. Immerhin räumt auch von Schubert ein, »daß die Zahl der Waffentragenden erstaunlich zusammenschmolz«. Er selbst bekam kurz nach dem Beresina-Übergang Typhus, und daß er ihn überlebte, verdankte er einer privilegierten Pflege als Privatpatient des Divisionsarztes, die so nur einem Generalstäbler zuteil wurde. In den Lazaretten Polens ging das Sterben unvermindert weiter, und die Flüchtigen trugen die Epidemie von Ort zu Ort bis nach Deutschland hinein.
Prinz Eugen von Württemberg, wie sein Bruder Alexander General in russischen Diensten, meint, von der Grande Armée hätten im Dezember 1812 nur noch 80 000 Soldaten die russische Grenze überschritten. General Gaspard Gourgeaud, einer der Ordonnanzoffiziere Napoleons, kommt in seiner 1825 gedruckten Darstellung des Krieges von 1812 auf die Summe von 127 000 Überlebenden. In beide Zahlen sind die Kontingente der Österreicher und Preußen eingerechnet. Die Russen haben – Militär und Zivil zusammengerechnet – etwa 500 000 Menschen durch Krieg, Krankheit und Kälte verloren. Dies entspricht den Verlusten der Grande Armée und allen sie begleitenden Zivilpersonen, so daß also dieser Feldzug etwa eine Million Opfer forderte.
Das russische
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