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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Innenministerium registrierte im Februar 1813 auf russischem Boden 431 382 Leichen, von denen 123 382 verbrannt und 308 000 von den Bauern beerdigt wurden, außerdem die Kadaver von 118 768 Pferden. Die Beseitigung dieser Überreste erfolgte im Januar und Februar 1813. Nicht mehr festzustellen war, ob es sich bei den Toten um Soldaten oder Zivilisten handelte, ums Leben gekommeneKombattanten, Verwundete, Kranke oder Gefangene und auch nicht, von welcher Nation die Opfer stammten. Einschließlich aller im Laufe des Feldzugs zur Grande Armée gestoßenen Reserven sind insgesamt 612 000 Soldaten, 182 000 Pferde und 1372 Kanonen mit Napoleon nach Rußland marschiert. Davon waren Mitte Dezember noch 58 000 Soldaten, 18 000 Pferde und 120 Kanonen übriggeblieben, die jenseits der russischen Grenze stationierten Reservetruppen in polnischen Städten und Festungen nicht eingerechnet. Der kälteste Tag des Feldzugs war der 4. Dezember, an dem eine Minustemperatur von 37,5 Grad Celsius gemessen wurde.
    Am 8. Februar besetzte die russische Armee das darauf völlig unvorbereitete Warschau. Über das Schicksal der Grande Armée war in dem napoleonischen Satellitenstaat kaum etwas bekannt geworden, wie Anna Gräfin Potocka berichtet, eine polnische Patriotin und Bewunderin des französischen Kaisers:
    »Die Unglücksfälle, welche über die Armee hereinbrachen, waren ja nur von einer geringen Anzahl Einsichtiger vorhergesehen worden: Die Nachricht von dem Brande Moskaus war das erste Signal, welches allen Unglück zu prophezeien schien. Der Gesandte (Frankreichs: Dominique Abbé de Pradt) tat alles mögliche, um uns unsere Illusionen ungestört zu belassen. Die Kuriere, die von der Armee zur Kaiserin eilten, gingen über Berlin; kein der Post übergebener Brief gelangte mehr an seine Adresse – Herr de Pradt suchte uns durch Bälle und glänzende Diners zu beschwichtigen. – Da blieben plötzlich die Nachrichten ganz aus, es wurde nun unmöglich, zu verheimlichen, was geschah und schon geschehen war – trotzdem gab es noch einmal einen Ball, allein er sah einer Trauerzeremonie ähnlicher als einer Belustigung.
    Mein Schwiegerpapa hatte mich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit von den eingetroffenen Nachrichten in Kenntnis gesetzt, verlangte aber trotzdem, ich sollte den Ball beim Erzbischof mitmachen. Ich zog ein schwarzsamtenesKleid an, um dadurch einen Vorwand zu haben, daß ich nicht tanzte, Herr de Pradt, der sich stellte, als wäre er über eine so wenig passende Toilette erzürnt, wiederholte mir mehrere Male, dieselbe passe nicht zu meinem jugendlichen Alter. Während er sich alle Mühe gab, seinen Gästen gegenüber den Unbefangenen zu spielen, war, wie wir hörten, bereits Befehl für die Gesandtschaft eingetroffen, sich zur Abreise zu rüsten. – Je weniger man den Schlag vorausgesehen hatte, desto schrecklicher traf er. Ein stummes, ahnungsbanges Grauen bemächtigte sich der Bevölkerung von Warschau, eine qualvolle Unruhe war das Los aller derer, die Vater, Gatten, Brüder, Söhne in der Armee hatten; man sprach nur zitternd zueinander, dabei blieben die schlimmsten Befürchtungen noch hinter der Wahrheit zurück. – Endlich erfuhren wir alles auf einmal, während zweier Wochen hatte man uns die eingegangenen Nachrichten vorenthalten – nun fiel unser stolzer Bau – fiel alles, alles in Trümmer.«
    Ganz so unvorbereitet wie in Warschau war man in Dresden nicht, denn man kannte ja das am 24. Dezember veröffentlichte 29. Bulletin, in dem Napoleon die Vernichtung der Armee zugegeben hatte. Dennoch erschütterte der Anblick der zerlumpten und halberfrorenen Soldaten die Menschen zutiefst. Der Dresdner Maler Ludwig Richter beschreibt in seinen Erinnerungen den Elendszug, den er als Neunjähriger erlebte: »Im Anfange des Jahres 1813 sah ich eines Tages bei wildem Schneegestöber über die Elbbrücke einen Zug wankender Gestalten kommen, die mich sehr frappierten. Die armen, sonderbar vermummten Menschen waren Franzosen, die aus Rußland zurückkehrten. Reiter, aber zu Fuß, in Pferdedecken gehüllt, auf Stöcke sich stützend, schlichen gebückt und matt einher. Andere hatten Weiberpelzmützen auf dem Kopfe. Lumpen oder über die schäbigen Uniformen gezogene geraubte Bauernkittel sollten sie vor der schneidenden Kälte schützen. – Das waren nun die ehemaligen Brot- und Bratenverächter, ein Anblick zum Erbarmen! Die Nachricht vomBrande Moskaus, die entsetzliche Vernichtung dieser unermeßlichen

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