Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
vierundzwanzig Stunden mußte er noch leiden, bis der Tod sich seiner erbarmte.«
Wie stark die Versuchung war, von eigener Hand sein Leben zu enden, erfuhr der württembergische Regimentsarzt Groß an sich selber: »Beinahe allgemein herrschte geistige Niedergeschlagenheit, Entmutigung und bei vielen ein Lebensüberdruß.Ich muß es bekennen und schäme mich deshalb jetzt noch, damals auch eine Anwandlung solch unchristlichen Kleinmuts gehabt zu haben. Einige Tage lang kam mir öfters der Gedanke, meinem Leben ein Ende zu machen, namentlich mich zu erschießen, denn die beinahe unaufhörliche Diarrhoe mit ihren Beschwerden und ihren Folgen, geistige und leibliche Erschöpfung, nahm bei mir auch so zu, daß ich beinahe immer außerhalb des Lagers sein mußte und mich keiner Erholung mehr hingeben konnte.«
Die totale Erschöpfung der Soldaten, die mit viel zu wenigen Ruhetagen den sich ständig zurückziehenden Russen hinterherhetzten, die völlig unzureichende Ernährung, der Mangel an genießbarem Wasser, die Strapazen durch ein permanent wechselndes Wetter (an den Tagen der übergroßen Hitze wurde nur noch nachts marschiert), das nicht absehbare Ende des Krieges und nun die zunehmende Zahl der Selbstmorde verstärkten die Demoralisierung der Grande Armée . Es fehlte am Nötigsten: »Zu aller dieser Not gesellte sich noch der schlechte Zustand der Montierung und besonders der Fußbekleidung«, schreibt Leutnant von Kurz. »Die erstere faulte bei den oft nassen und kalten Nächten auf dem Leibe, und die letztere war so zerrissen, daß die Hälfte der Mannschaft ohne Sohlen marschieren mußte.« Und der Nördlinger Maler Albrecht Adam berichtet: »Nadel, Faden, Schere, Messer, Feuerzeug, Rock- und Hosenknöpfe und andere unscheinbare Dinge bekamen einen unschätzbaren Wert.« Folge der Mißstände waren Exzesse, Plünderungen, Desertionen und zunehmendes Marodieren, was zur Auflösung der Disziplin führte und immer bedrohlicher wurde. Der westphälische Infanterie-Major Wilhelm von Loßberg berichtet am 6. Juli in einem Brief an seine Frau, wie ein zurückgebliebener Transport seiner Einheit von polnischen Nachzüglern überfallen »und teilweise beraubt worden sei, während die zwei Fahrknechte und ein dabei kommandierter Unteroffizier auf das gröbste mißhandelt worden«. Aber diepolnischen Soldaten zeigten sich auch von einer anderen Seite, wie von Loßberg drei Tage später ergänzt: »Beim Einrücken in das Biwak kamen mehrere polnische Offiziere zu denen meines Bataillons, um solche mit einem Labetrunke zu erquicken; unter andern sprengte ein Stabsoffizier zu Pferde in Karriere auf mich ein, wie ich gerade im Begriffe war, das Bataillon auseinandergehen zu lassen, und präsentierte mir eine Bouteille Rotwein nebst dem Glase mit den Worten: ›Erlauben Sie mir, Kamerad! sehr heiß! ein Glas Wein gut bekommt!‹ Nahm darauf, nach meinem herzlichen Danke, meinen Bedienten mit sich und führte ihn zu einem polnischen Marketender, wodurch ich noch einige Bouteillen Wein für mein Geld erhielt. Dieser echt kameradschaftliche Soldatensinn stimmte mich so dankbar, daß ich mich mit der polnischen Nation in Gedanken wieder auszusöhnen vermochte. Wir hatten uns nie gesehen.«
Auch den Russen setzten die Gewaltmärsche zu. Zwar litten sie nicht Not, denn an Verpflegung mangelte es ihnen nicht, doch das Wetter und die Strapazen machten ihnen nicht weniger als der französischen Armee zu schaffen. Hauptmann Pawel Puschkin von der Semenowski-Leibgarde (5. Korps der 1. West-Armee) notierte am 30. Juni in sein Tagebuch, sein Regiment habe elf Stunden lang im strömenden Regen marschieren müssen, wobei 40 Soldaten erkrankten und einer starb, drei Polen desertierten. Die Fahnenflucht der Polen nahm zu, besonders bei den Ulanen-Regimentern, die zu den Franzosen übergingen. Die polnischen Bauern zeigten sich aufsässig, griffen auch, angeführt von den Gutsbesitzern, zuweilen an. Der russische Leutnant Eduard von Löwenstern aus dem Stab des Generals Graf Pahlen (1. West-Armee, 3. Kavallerie-Korps) berichtet, wie die russischen Soldaten gefangene polnische Adlige behandelten: »Prügel kriegte er mehr, als er ertragen konnte; an Kantschuhieben und Fußtritten fehlte es ihnen unterwegs keinesfalls, wohl aber an Essenund Trinken; viele von diesen soit disant Patrioten starben unterwegs zum großen Leidwesen ihrer Landsmänner.« Die Polen waren erst durch die drei Teilungen 1772, 1793 und vor allem 1795, als ganz Litauen
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