Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
ständig zurückziehendenRussen einzuholen, was ihm aber nur selten gelang, und auch dann blieb es meist bei kleineren Gefechten, aus denen sich die Russen dann in guter Ordnung lösen konnten. An der militärischen Lage änderte sich dadurch nichts.
Eduard Rüppell erkrankte Mitte August, und die von den westphälischen Husaren benutzte Medizin – Schnaps mit gekochten, zerdrückten Wacholderbeeren – half nun auch nichts mehr: »Mich hatte inzwischen leider ein Übel ergriffen, von dem fast alle unsere Leute mehr oder minder befallen waren, nämlich eine bösartige Ruhr. Sie fing mit Erschlaffung des ganzen Körpers, völliger Appetitlosigkeit und einem brennenden Durst an. Der stete Brotmangel, dazu keine warme Nahrung, sondern nur Honig und etwas kaltes Pökelfleisch hatte mein Übel sehr gesteigert; das miserable Wasser aus Lachen, das matt und warm war, machte, daß ich einen steten Drang fühlte, alle 20 Minuten absitzen und des Nachts im Biwak, statt zu ruhen, abseits schleichen mußte, um unter peinlichen Schmerzen Blut von mir zu geben.« Auch der westphälische Oberstleutnant Wilhelm von Conrady berichtet Ende Juli von der »in erschreckender Weise« steigenden Sterblichkeit im 8. Armeekorps: »Die Ärzte waren gegen die vielen Krankheiten, von denen hauptsächlich die Ruhr zu nennen ist, machtlos, denn es fehlte an allen Arzneimitteln. Die Medizinwagen enthielten nur mehr Instrumente zum Schneiden und Verbandzeug. Wer krank wurde, war meistens geliefert.« Täglich starben in seiner Division 10 bis 14 Mann an der Ruhr, und das 7. westphälische Infanterie-Regiment ließ Anfang August 1000 Erkrankte in Orscha zurück. In den Lazaretten von Witebsk lagen 3000 Kranke, wobei sich inzwischen auch die Fälle von Cholera und Typhus mehrten.
Caulaincourt wurde von Napoleon beauftragt, sich um die Lebensmittelversorgung und die Lazarette zu kümmern: »Nach besten Kräften erfüllte ich diese Aufgabe; sie war schmerzlich und gefährlich, denn überall lauerte die Ansteckung: Diese Unglücklichen waren von allem entblößt, auf dieErde gelagert, die meisten ohne Stroh, alle in verzweifelter Lage. Viele von ihnen, selbst Offiziere, waren noch nicht verbunden. Die Kirchen, die Magazine, alles war überfüllt. Kranke und Verwundete waren im ersten Augenblick durcheinandergelegt worden. Die Zahl der Chirurgen und Ärzte reichte nicht aus; zudem hatten sie weder Wäsche noch Medikamente. Mit Ausnahme der Garde, die sich noch einige Bestände bewahrt hatte, fehlten allen Ambulanzen sogar die Instrumentenkästen; sie waren zurückgeblieben und mit den Packwagen verlorengegangen, die man nach dem Tode der Zugpferde längs der Straßen hatte stehenlassen müssen.«
Die französische Militärverwaltung (Intendantur) kümmerte sich um nichts. »Unsere Kranken, unsere Verwundeten gingen zugrunde, weil ihnen auch die geringste Hilfe fehlte. Jene zahllosen Trainwagen, jene unermeßlichen Lebensmittelvorräte, die seit zwei Jahren mit so riesigen Kosten angesammelt waren – sie waren verschwunden, ausgeplündert, verloren aus Mangel an Transportmitteln. Sie lagen verstreut auf der Straße. Die Schnelligkeit der Märsche, die Mängel der Bespannung, die unzureichend war und nicht abgelöst werden konnte, der Futtermangel, die schlechte Pflege – alles war zusammengekommen, um den Pferdebestand zu vernichten. Dieser Feldzug im Postwagentempo, der ohne greifbares Ergebnis uns vom Njemen bis Wilna, von Wilna nach Witebsk geführt, hatte die Armee schon mehr gekostet als zwei verlorene Schlachten und beraubte sie ihrer Hilfsquellen und ihrer unentbehrlichsten Unterhaltsmittel.«
Einen Eindruck von den Lazaretten vermittelt uns auch der sächsische Husar Theodor Goethe: »Die Wagen fuhren in einen Hof, in dem ein langes Gebäude stand, das ehemals ein Kloster gewesen sein sollte. In diesem Gebäude, worin schon ein Lazarett gewesen sein mochte, da alle Räume noch mit altem Stroh bedeckt waren, wurden die Kranken untergebracht. Es schien auch, als wenn wir hier längere Zeit bleiben sollten; denn bald, nachdem wir uns auf das Stroh gelagert,kam ein Militärarzt, begleitet von einem Unteroffizier und Lazarettwärtern in unsere Stube und befragte die Kranken der Reihe nach, wie sie lagen, nach Namen, Alter, Geburtsort und Charge. Die Antworten wurden von dem Unteroffizier aufgeschrieben, und der Krankenwärter, der eine große Flasche Medizin trug, die, wie ich nachher schmeckte, viel Kampfer enthielt, gab dann jedem Kranken
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