Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
einen Löffel davon. Es mußte dies also ein Universalmittel sein, und wir schluckten die Tropfen begierig hinunter, da es die erste Medizin war, die wir seit der Abfahrt von Kalisch bekommen hatten. Wie ich so auf der Streu lag, machte ich die unangenehme Bemerkung, daß ganze Scharen von Ungeziefer auf meinen blauen Reithosen ungeniert herumspazierten. Die Aussicht war gewiß nicht reizend, auf diesem mit Ungeziefer bedeckten alten Stroh noch die Nacht zubringen zu müssen. Während ich mich gegen das Andringen der unverschämten Gäste mit beiden Händen wehrte, wurde von zwei Lazarettwärtern ein großes hölzernes Gefäß hereingebracht, woraus sie kleine blecherne Näpfe füllten und sodann den Kranken mit einem Löffel reichten. Auch ich bekam eine Portion, die aus gekochter Grütze bestand, konnte aber nur wenig davon genießen, da mein Magen zu schwach war, um das Genossene zu behalten.«
Die Grande Armée zählte zu Beginn des Krieges 826 Chirurgen. Dazu kamen die Regimentsärzte, meist als Wundärzte (Feldscher) bezeichnet, etwa 10 pro Regiment. Sie waren nur für einfache Eingriffe zuständig, etwa das Anlegen von Verbänden, Operationen waren allein Sache der Chirurgen. Chefchirurg der Grande Armée war Jean-Dominique Larrey, zweifellos der bedeutendste Chirurg jener Epoche, bei Freund und Feind gleichermaßen hoch angesehen. Larrey sorgte für die Einrichtung der Lazarette in Wilna (hier lagen dann im Sommer 1812 bereits 15 000 Verwundete und Kranke) und im August in Witebsk, wo Larrey keinen Unterschied zwischen Franzosen und Russen machte, wenn es um die Sorgfalt der Behandlung ging. Das wurde ihm später von den Russen hoch angerechnet.
Albrecht Adam: Konvoi von Ambulanzwagen auf dem Vormarsch, gezogen von schon sehr abgemagerten Pferden und Ochsen. Das französische Sanitätskorps war unzulänglich ausgerüstet; es fehlte nicht nur an Wagen zum Transport der Verwundeten, sondern auch an Verbandsstoff und Medikamenten. Eine Armee von einer halben Million Soldaten medizinisch zu versorgen war angesichts der damaligen Kapazitäten und der schon bei Kriegsbeginn zusammenbrechenden Logistik ganz unmöglich.
Als Napoleon diese Lazarette in Witebsk besuchte, um sich selber ein Bild zu machen, gab er Larrey die Schuld an der unzulänglichen Versorgung. Aber auch ein Larrey konnte nicht arbeiten, wenn die französische Intendantur Instrumente, Medikamente und Verbandsmaterial nicht lieferte, was er dem Kaiser in einer Denkschrift vortrug. Napoleon entschuldigte sich daraufhin zwar bei Larrey in Anwesenheit seines Stabs: »Gut, ich weiß jetzt, was passiert ist; ich stehe zu dem, was Sie mir gesagt haben, und ich betrachte Sie als einen der besten Diener des Staates und als meinen Freund!« An den Mißständen änderte das aber nichts. Mangels Pflege starbdie Hälfte der Erkrankten, von denen die meisten selbst nach dem damaligen Stand der Medizin hätten gerettet werden können.
Daß sich unter solchen elenden, bedrückenden Umständen viele Soldaten das Leben nahmen, überrascht nicht. Selbstmorde waren vereinzelt schon in Polen vorgekommen, wie bereits von Soldat Jakob Walter berichtet. Im Lager der westphälischen Truppen bei Grodno erschossen sich Soldaten »vor der Front und vor aller Augen«, so Oberleutnant Gieße. »Sie gaben durch einen Schuß aus ihrem Gewehr freiwillig ein Dasein auf, das anfing, ihnen zur Last zu werden.« Der württembergische Major von Lindner (Infanterie-Regiment Nr. 4) und der Regimentsarzt Dr. Schlaier vom 6. württembergischen Infanterie-Regiment schnitten sich Anfang Juli die Kehle durch, Leutnant von Martens hält am 26. Juli in seinem Tagebuch fest: »Einem Unteroffizier des 2. Regiments, dessen Kräfte nachließen, sprach ich zu, mit gutem Beispiele vorzugehen; dieser Unglückliche raffte sich auf, verschwand hinter einem Gebüsche und drückte mit dem Ladestock sein Gewehr im Munde ab, noch röchelte er, als ich mich dahin begab.« Martens erlebte auch einen Tag später in Bjeschenkowitsch an der Düna einen »empörenden Vorfall«: »Der kranke Oberleutnant Poller vermochte nicht mehr in Reih und Glied zu stehen und ließ sich auf einem Tornister nieder, Oberst B. befahl ihm aufzustehen, Poller gehorchte, aber seine Kräfte ließen bald wieder nach, und als der hartherzige Oberst ihn darüber noch barscher anfuhr, schlug er vom Gewehr des nächsten Soldaten das Bajonett ab und rammte sich solches, noch ehe man es zu verhindern vermochte, durch die Brust;
Weitere Kostenlose Bücher