Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Smolensk, den 18. August 1812, nachts 10 Uhr. – Geschützstellung württembergischer Fußartillerie; links vorn bietet eine Marketenderin ein Getränk an, rechts tragen Soldaten erbeutete Pelzmäntel heran. Zwischen der Stadtmauer und der brennenden Stadt fließt der Dnjepr.
Und die Hoffnung der Franzosen auf Nahrung wurde enttäuscht. Oberleutnant Friedrich Gieße bilanziert: »Keinerlei Magazine, worauf wir unseren Hunger verwiesen, bloß vielleicht einige hundert Stück schwere Geschütze, womit die Wälle der Stadt garniert, waren das Ergebnis unserer Opfer und Mühen.« Am 19. August zog das Regiment von Wedels über das Schlachtfeld: Ein »grausiger Anblick« bot sich ihnen: »Mehrere tausend Tote bedeckten es, aller Kleidung beraubt, unter den Strahlen der Augustsonne in schnelle Verwesung übergegangen, die Leiber blau, hoch aufgetrieben, die Glieder geschwollen.« Und das Innere von Smolensk »war nicht weniger geeignet, Entsetzen zu erregen. Die meisten Häuser waren in Flammen aufgegangen, die hölzernen bis auf den Boden verbrannt, die steinernen ganz ausgebrannt. Die abziehenden Russen hatten alles verwüstet, was irgend hätte von Nutzen sein können. Leichen überall, aber welche Leichen! Niemand hatte Zeit und Lust gehabt, sie aus dem Wege zu räumen, und gleichgültig, durch Gewohnheit des täglichen Anblicks und eigenen Leidens, gegen das, was in andern Zeiten den Gefühllosesten mit Schauder erfüllt haben würde, waren Geschütz, Bagage, Pferde und Fußvolk zweier Armeen über Tote und Verwundete hinweggezogen. Die Körper warenzerschmettert, platt gefahren und getreten, das Blut hatte sich mit dem Staube vermischt und war mit demselben zu einer festen Masse zusammengeknetet; die Straßen waren wie mit einem dicken weichen Teppich bedeckt. Mit Schaudern dachte man: Das waren Menschen wie du, das kann auch aus dir werden! Auch ich zog darüber hinweg, wie Tausende vor und nach mir, als ich zwischen zwei niedergebrannten Häusern einen schmalen Garten bemerkte, in welchem unter Obstbäumen, die verkohlte Früchte trugen, fünf oder sechs im eigentlichen Sinne des Wortes gebratene Menschen lagen. Wahrscheinlich waren es Schwerverwundete, die man, ehe es gebrannt, unter dem Schatten der Obstbäume niedergelegt hatte. Die Flamme hatte sie nicht unmittelbar berührt; aber die Hitze hatte die Sehnen der Arme und Beine zusammengezogen und in gräßlicher Verzerrung krumm gegen die schwarz gesengten Leiber gebogen. Die Lippen waren von den weißen, schrecklich hervorstehenden Zähnen zurückgezerrt, und tiefe, finstere Löcher bezeichneten die Stellen der Augen.«
Der russische Husarenleutnant Eduard von Löwenstern, Adjutant des Generals Graf Peter von der Pahlen, der das 3. Kavallerie-Korps der 1. West-Armee kommandierte, erlebte einen Angriff französischer Voltigeurs auf eine russische Batterie, die dann aus der Nähe mit Kartätschen beschossen wurden. Noch nie hatte der junge Offizier durch eine einzige Salve so viele Menschen »in ihrem Blute ohne Arme und Beine sich wälzen sehen«. Löwenstern ritt in die Stadt hinein: »Diese war wie ausgestorben; einige Blessierte und Betrunkene wankten in den öden Gassen herum. Die Vorstädte brannten, die Magazine und einige Häuser wurden geplündert, draußen donnerte die Schlacht. Das eben geschaute Blutbad hatte einen fürchterlichen Eindruck auf mich gemacht. Ich fühlte mich gänzlich verlassen, plötzlich ergriff mich eine solche Furcht, daß ich gern mich in ein Mauseloch versteckt hätte; jeder starke Knall machte mich zittern. Ich habe nie nachher einensolchen schwachen Augenblick mehr gehabt. Dieser Szene, wie ich zitterte, sah die Frau des Apothekers zu, und man kann sich denken, welche erbärmliche Figur ich gemacht haben muß, daß dieses Weib bei all dem Unglück sich des Lachens nicht enthalten konnte. Ich schämte mich vor mir selbst, und erst als ich Smolensk im Rücken hatte, atmete ich freier.«
Auch General Eugen von Württemberg, Kommandeur der 4. Infanterie-Division im 2. Korps der 1. West-Armee, versuchte, sich in der Stadt selbst ein Bild zu verschaffen: »Jenseits der Brücke befand ich mich alsbald von einer so gedrängten Masse von Verwundeten umgeben, daß mir das Durchwinden fast unmöglich wurde. Man konnte sich nicht leicht etwas Gräßlicheres denken als dieses Schauspiel. Zerfetzte Gesichter, zerschossene Glieder und Blut in Strömen bezeichneten den Zug dieser aus dem Treffen weichenden Menschenmenge, welche von den
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