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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Brücken bis zum Malachowskischen Tore die ganzen breiten Straßen anfüllte und, ununterbrochen von den sie begleitenden Kanonenkugeln des Feindes bestrichen, den schaurigen Pfad mit Leichen bedeckte.«
    Daß Barclay erneut den Befehl zum Rückzug gab, löste in der russischen Armee offene Empörung aus, besonders unter den Generalen, die hierfür meist die ausländischen Generale verantwortlich machten. »In denen, die uns kommandieren, fließt kein russisches Blut!«, erregte sich Großfürst Konstantin, der Bruder des Zaren, mit Blick auf Barclay de Tolly, der einer in Livland ansässigen Familie schottischer Herkunft entstammte. An den Zaren erging daher die flehentliche Bitte, endlich einen Russen mit der Führung der Armee zu betrauen. Alexander I., den der ständige Rückzug ebenfalls empörte, ließ sich überzeugen und ernannte am 20. August den 67 Jahre alten kampferprobten, allerdings als etwas träge geltenden Fürsten Michail Illarionowitsch Kutusow zum Oberkommandierenden. Schon am 29. August traf er bei der Armee ein – und wurde jubelnd begrüßt.Die Eroberung von Smolensk hatte Napoleon 10 000 Mann an Toten und Verwundeten gekostet, die Russen 6000; beide Seiten hatten keine Gefangenen gemacht. Bei der Verfolgung war es am 19. August noch zu einem schweren Gefecht bei Walutina-Gora, acht Kilometer nordöstlich von Smolensk, gekommen, bei dem die von Marschall Ney geführten Truppen zurückgeschlagen wurden und 8800 Mann an Toten und Verwundeten verloren, die Russen 6000, die aber ihre Stellung noch halten konnten und sich dann langsam weiter zurückzogen.
    Für die Grande Armée war hier der Sieg zum Greifen nah gewesen, wenn nicht General Andoche Junot, für alle unbegreiflich, mit den Truppen des von ihm geführten 8. Armeekorps stehengeblieben wäre. So aber mußten nun die westphälischen Soldaten in ohnmächtigem Zorn zusehen, wie ihr Kommandeur sich trotz aller Aufforderungen weigerte, den Befehl zum Angriff zu geben. »Zähneknirschend standen wir als müßige Zuschauer, wo Ehre und Ruhm winkten«, erinnert sich der westphälische Oberstleutnant Wilhelm von Conrady. »Noch nie ist die Gelegenheit, einen glänzenden Erfolg zu erringen, in so gewissenloser feiger Weise versäumt worden. Ich sah viele Offiziere und Mannschaften in meinem Bataillon, denen Tränen der Wut und Scham die Backen herunterliefen.«
    Napoleon tobte, als er von Junots Verhalten erfuhr. Er hatte seinem Bruder Jérôme das Kommando über das 8. Armeekorps entzogen und es Junot übergeben, den er aus gemeinsamer Zeit in Italien kannte und persönlich sehr schätzte. Was der Kaiser hätte besser einschätzen müssen, war, daß Junot in früheren Feldzügen schwere Kopfverletzungen erlitten hatte, die inzwischen seine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigten. Er war einfach nicht mehr fähig, seinen Aufgaben nachzukommen, und hätte daher niemals ein Kommando bekommen dürfen. (Ein Jahr später wurde er wahnsinnig und nahm sich das Leben.) Nicht die Westphalen hatten versagt, Napoleon selbst hatte sich durch die eklatanten Fehlbesetzungenmit Jérôme und Junot selber um den Erfolg gebracht. Doch sein Zorn traf die Westphalen, denen er die undankbare Arbeit zuwies, das Schlachtfeld von Smolensk aufzuräumen, das übersät war von Leichen und sogar noch von hilflosen Verwundeten. »Die Leichen gingen wegen der gräßlichen Hitze schon stark in Verwesung über und gaben einen so fatalen Geruch ab, daß die unter Aufsicht von einem Offizier zu solchem Corvée (Fronarbeit) verwendete Mannschaft alle Stunde mußte abgelöst werden; so traf auch mich die Tour«, schreibt Oberleutnant Gieße am 20. August in sein Tagebuch. »Die Beerdigung geschah in kaum anderthalb Schuh tiefen Gräben, in welche die Leichen mit Schaufeln und Hacken herbeigebracht wurden. Abschreckend war es, stieß man dabei auf solche, die durch schwere Geschützkugeln in Stücke zerrissen und deren Gliedmaßen, Därme und Eingeweide weithin geschleudert waren; auffallend mußte es sein, 2, 3, 4, 5 und mehr russische Körper gegen einen der unserigen schauen zu können. Sosehr man auch bemüht, den Boden zu säubern, blieb doch mancher Tote unentdeckt in dem Gebüsch liegen, und nur der Verwesungsgeruch tat jene Stätte kund.«
    Die Verwundeten der französischen Seite waren wie immer miserabel versorgt. Die wenigen Häuser, die das Feuer im verwüsteten Smolensk unversehrt gelassen hatte, dienten jetzt als Lazarette für die mehreren tausend Versehrten aus den

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