Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
verniedlicht hätten.«
Albrecht Adam, der Maler aus Nördlingen, der den Stab von Eugène de Beauharnais im 4. Armeekorps als zeichnender Augenzeuge begleitete, war entsetzt über die gänzliche Disziplinlosigkeiteiner von allerlei Gesindel begleiteten Armee, die sich jeglicher Ordnung widersetzte, zumal sie durchweg betrunken war. Er beschränkte sich auf die Rolle des Beobachters. »Zu zeichnen war ich nicht imstande; in der Schlacht und bei größter Gefahr verließ mich nie die nötige Ruhe; aber hier wurde man von den Ereignissen überwältigt. Ein Eindruck verdrängte den andern, keinen konnte man lange festhalten. Später habe ich es oft bitter bereut, nicht wenigstens einige Striche gemacht zu haben: Sie wären ganz unschätzbar gewesen.«
Mitten im Gewühl der hektischen Plünderer stieß Adam auf einen großen Wagenpark mit fabrikneuen Luxuskarossen. Hier bedienten sich Generale und Offiziere, um ihre Beute abtransportieren zu können, in die Heimat, wie sie noch naiv glaubten. Unterwegs begegnete Adam einem General, der ihn einlud, mit ihm Bilder zu stehlen (Venez, Mr. Adam, il faut faire le voleur des tableuaux!) . »Er führte mich in ein Palais, in dem eine sehr schöne kleine Galerie von mitunter wertvollen Bildern und auch plastische Werke sich befanden, über die ich mein Gutachten abgeben sollte.« Doch Adam wollte sich nicht an Kunstwerken aus fremdem Besitz bereichern. »Das Treiben in Moskau widerstrebte meiner ganzen Natur.«
Christian von Martens notiert in seinem Tagebuch am 18. September, er habe »inmitten zerschlagenen Hausgerätes eine Frau mit einem Kinde im Kot zertreten« gefunden. In den Straßen sah er mehr oder weniger stark verbrannte Leichen, die durch Menschen, Pferde und Fuhrwerke bis zur völligen Unkenntlichkeit zertrampelt worden waren. Er ging zu einer Gruppe italienischer Soldaten, die Wassermelonen verzehrten, und »bekam von der so lange nicht mehr genossenen Frucht in diesen nördlichen Regionen wider Vermuten zu genießen«. Obst gab es in dieser Trümmerwüste reichlich, zum Teil frisch, zum Teil eingemacht, die Keller waren voll davon, auch an Kaffee und Zucker mangelte es nicht, nur an Mehl und Brot. Deswegen war die Freude besonders groß, alsGardesergeant François Bourgogne und seine Kameraden im verlassenen Haus eines italienischen Zuckerbäckers drei große Säcke Mehl entdeckten und sogar, »was unsere freudige Überraschung verdoppelte«, mehrere Krüge Senf mit der Heimweh verursachenden Aufschrift: Rue Saint-André-des-Arts Nr. 13 à Paris .
Als Major Graf Soltyk an einem großen Kloster vorbeikam, das vom Feuer verschont geblieben war, sah er zu seinem Erstaunen, wie russische Priester des Klosters französischen Soldaten Wein anboten. Obwohl er quälenden Durst hatte, ritt er lieber vorbei und nahm mit vier polnischen Offizieren in einer verschont gebliebenen Kirche Nachtquartier. Sein Instinkt hat ihn nicht getrogen. Bei Tagesanbruch wurde er vom Schrei eines seiner Offiziere jäh aus dem Schlaf gerissen: »Kommandant! Die Kirche liegt voller Pulverfässer, und die Fensterscheiben sind alle zerbrochen.« Ohne noch lange zu überlegen, schwangen sich die Offiziere auf die Pferde und jagten davon. Natürlich handelte es sich bei dieser Kirche nicht um ein verlassenes Munitionsdepot der russischen Armee, das verbot schon der hohe Respekt vor einem Gotteshaus; die Kirche war vielmehr vorsätzlich präpariert woden, und eine Fackel nachts durch die zerbrochenen Scheiben auf die Fässer geworfen, hätte genügt, einen ganzen Stadtteil dem Erdboden gleichzumachen. Ob dies nach der Flucht der Polen noch geschehen ist, läßt Soltyk offen. »Schnell sind wir im Steigbügel und entfernen uns schweigend; kein Wort verlautet, und erst als wir außer Gefahr sind, umarmen wir uns und wünschen uns zu unserer wunderbaren Rettung Glück.«
11. IN UND UM MOSKAU
Sechs Tage und sechs Nächte wütete das große Feuer. Als die letzten Flammen erloschen, wurde Bilanz gezogen. Von den 4000 steinernen Häusern waren nur 250 unversehrt geblieben,von den 8000 hölzernen 500 und von den 1600 Kirchen 100. Der Wert des in Moskau Verbranntem an beweglicher und unbeweglicher Habe betrug 270 Millionen Rubel, eine für jene Zeit geradezu gigantische Summe. Da große Teile der Vorstädte und viele steinerne Kellergewölbe dem Feuer entgangen waren, gab es auch im Stadtbereich Quartiere, außerdem wurden Soldaten in den umliegenden Dörfern untergebracht, die von der russischen Armee
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