Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
schlechtem Zustand, weil es immer schwieriger wurde, in der von Opolchenie und Kosaken beobachteten Umgebung an Futter zu gelangen.
Nächst Napoleon ist in den Augenzeugenberichten der Grande Armée über keinen so viel geschrieben worden wie über Murat, Marschall von Frankreich, seit 1808 König von Neapel und Ehemann von Napoleons Schwester Caroline. Er war seinem Kaiser, den er seit ihren gemeinsamen Kämpfen während der Revolutionszeit kannte, treu ergeben und bei seinen Soldaten sehr beliebt. Der 45 Jahre alte Sohn eines Gastwirts hatte eine stürmische Karriere vom einfachen Soldatenbis zum Marschall von Frankreich gemacht und war für sein Draufgängertum und seine Unerschrockenheit berühmt. Immer an der Spitze seiner Reiter, in seinem Elan unwiderstehlich und in seiner Uniformierung farbenfroh wie ein Paradiesvogel, denn man sah ihn nur selten in der Uniform eines Marschalls, sondern – auf einer Tigerfellschabracke – in prächtigen Phantasieuniformen, die er oft täglich wechselte, dazu mal rote, grüne oder gelbe Stiefel, die Kopfbedeckungen mit großen Federbüschen bekrönt. »König Franconi« nannte ihn spöttisch sein kaiserlicher Schwager (Franconi hieß Frankreichs größter Zirkus), der ihn als seinen Adjutanten von 1796 wegen seiner nicht zu überbietenden Couragiertheit dennoch sehr schätzte. Kaum ein Gefecht oder eine Schlacht, die Murat nicht in vorderster Front mitgemacht hatte, und es grenzt an ein Wunder, daß er, an dessen Seite Tausende fielen, nur ein einziges Mal, in Ägypten, verwundet wurde. Er sei der »Abgott der Soldaten« gewesen, meint Leutnant Carl von Wedel, und Hauptmann von Brandt und Husarenleutnant Rüppell geben ihm das Prädikat »ritterlich«. Alle, die mit Murat zu tun hatten, haben ihm Ähnliches nachgerühmt, denn seine Eitelkeit und sein Hang zur Prachtentfaltung waren durchaus liebenswürdig, zumal er seine bescheidene Herkunft nie vergaß und seinen Soldaten ein wahrer Kamerad gewesen ist.
Dennoch war er aber auch der Mann, der Napoleons Kavallerie zugrunde richtete. Um der russischen Armee, die von Anfang an bei ihrem Rückzug einen Vorsprung hatte, auf den Fersen zu bleiben, hat er die Pferde seiner Regimenter ruiniert, weil er ihnen keine Ruhe gönnte. Murat selbst besaß neun gutversorgte Pferde, die er, wenn irgend möglich, alle zwei Stunden wechselte. Seine Reiter aber besaßen oft nur eines, dazu ein unterernährtes. Außerdem wurde viel zu oft befohlen, abends nicht abzusatteln, um jederzeit angriffsbereit zu sein. Durch die stundenlangen Märsche und die Strapazen, denen die Tiere hier und im Gefecht ausgesetzt waren, hätten sie der Ruhepausen und des Absattelns dringend bedurft. So aberwurden die Pferde »gedrückt«, das heißt, es bildeten sich unter den Sätteln Druckstellen, die zu offenen eiternden Wunden führten und den Pferden quälende Schmerzen bereiteten. Die Folgen waren Invalidität und früher Tod. Als Murat mit seinen Eskadronen in Moskau einrückte, war die Reiterei der Grande Armée, bei Kriegsausbruch der russischen überlegen, militärisch nur noch ein Schatten glanzvoller Tage.
In seinem stets wechselnden exotischen Aufputz avancierte der König von Neapel bald zum Liebling der Kosaken, denen Murats Unerschrockenheit sehr imponierte. Wie erwähnt, sagte ein russischer Offizier zu Murat, die Kosaken hätten sich verabredet, nicht auf ihn zu schießen. Heinrich von Brandt beobachtete, wie Kosaken dem Marschall bei einem Gefecht am 29. September zuriefen: »Heute kommst du nicht davon, Zar!« und ihn umringten. Murat habe daraufhin mehrere Angreifer aus dem Sattel gehauen, sei geflohen, jedoch von zwei der Angreifer wieder eingeholt worden. Und vielleicht hätte er nun doch Kopf oder Freiheit verloren, wenn nicht ein polnischer Hauptmann, der ihm als Dolmetscher diente, den einen Kosaken getötet hätte, während der andere floh. Murat war zu vertrauensselig, es schmeichelte seiner Eitelkeit, von den Kosaken bewundert zu werden, die ihm sogar zauberische Fähigkeiten nachrühmten, weil es ihnen nie gelang, ihn zu fangen. Und das wurde ihm zum Verhängnis.
Wo Kutusow genau stand und wie stark er war, hatte Murat nie erkunden lassen. Er vertraute darauf, die Russen würden es nicht wagen, ihn anzugreifen. Zwar hatte Napoleon die zunehmenden Kontakte zwischen Offizieren der Grande Armée und den Russen aufs strengste untersagt, weil er fürchtete, man würde im anderen nicht mehr den Feind sehen und deswegen nicht mehr wachsam
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