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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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gehörte; es war die Wiege des Staats, der alte Sitz seiner Herrscher, der Edelstein in der russischen Krone; er glaubte nicht, daß auf der weiten Erde etwas Prächtigeres existiere; die Hunderte von Kathedralen und Kirchen mit der Menge von Klöstern und ihren goldenen Kuppeln bildeten den Mittelpunkt, den Schmuck der orientalischen Kirche; unzählige Heilige und Wundertäter sowie alle die alten Regenten lagen dort begraben, und alles das wurde jetzt ein Aschenhaufen.«
    Als Kutusow Moskau räumen mußte, hatte er ungefähr noch 50 000 reguläre Soldaten zur Verfügung. Inzwischen trafen von überallher Verstärkungen ein, so daß er nach wenigen Wochen schon auf 106 000 Soldaten zurückgreifen konnte, die Opolchenie mit 5300 Mann und 20 000 Kosaken eingeschlossen. Die Reorganisation der russischen Armee hatte begonnen und konnte der geschwächten Grande Armée durchaus wieder gefährlich werden. Denn vor allem die starke patriotische und besonders auch religiöse Motivation der Russen fehlte Napoleons Truppen. Sie wollten nur überleben und endlich nach Haus. Doch ihr Kaiser verschwendete nutzlosfünf Wochen in Moskau, weil er sich einbildete, der Zar würde ihn jetzt um Frieden bitten, damit man als Sieger abziehen könnte und Napoleons Friedensdiktat den Ortsnamen Moskau trug. Mit Recht fand Alexander, der über den desolaten Zustand der Grande Armée bestens informiert war, Napoleons Schreiben als so abwegig, daß er sie nicht einmal beantwortete. Denn längst arbeitete die Zeit für ihn – nur der französische Kaiser hatte das noch nicht begriffen. Er war am 19. September wieder in den Kreml zurückgekehrt und reorganisierte inzwischen die Trümmerstätte Moskau. Zum Generalgouverneur der Stadt hatte er den bewährten Marschall Edouard Mortier ernannt. Eingesetzt wurde auch ein militärischer Kommandant sowie ein Stadtrat aus den in Moskau verbliebenen ausländischen Kaufleuten und sogar eine russische Polizei. Der Stadtrat wünschte sich sogleich wieder einen Markt, auf dem die Bauern ihre Waren anbieten sollten.
    Welche Illusion! Die Dörfer im Umkreis von Moskau waren längst verlassen worden, und wäre es tatsächlich zu Transporten für einen Markt in die Stadt gekommen (was die russische Armee sofort unterbunden hätte), dann wären sie von dem marodierenden Gesindel im Gefolge der Grande Armée ausgeraubt worden. Denn außerhalb der zerstörten Stadt herrschte nur noch Anarchie. Der einzige Markt in Moskau wurde von jenen Soldaten gehalten, die sich in den Häusern und Kellern ein kleines Vermögen an Sachwerten zusammengerafft hatten, das sie – gemeinsam mit den Marketenderinnen – jetzt zu Geld machen wollten.
    Inzwischen gelang es der Heeresverwaltung, zu der auch Stendhal gehörte, allmählich, die Organisation aller gefundenen Lebensmittel in die Hand zu nehmen; das Proviantamt konnte endlich Brot backen, und die gefundenen Bestände an Biskuit, Bohnen, Branntwein, Erbsen, Graupen, Reis, Rum, Wein und sogar einigen Ochsen wurden gesammelt und an die Truppe verteilt.
    Die russische Armee unter Kutusow hatte sich währenddessen in ein Lager bei Tarutino, 100 Kilometer südwestlich von Moskau, zurückgezogen. Im Süden rückte das Armeekorps von Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow vor, um sich mit der 3. West-Armee des Generals Tormassow zu verbinden. Die Aussichten waren gut, mit dieser Überlegenheit, die im Raum Bialystok – Slonim – Brest-Litowsk stehenden Armeekorps der Österreicher und der Sachsen zurückzudrängen und nicht nur das Herzogtum Warschau zu bedrohen, sondern auch die Verbindungslinie Wilna – Smolensk – Moskau zu durchbrechen. Die Russen wußten, daß es Napoleon nicht möglich sein würde, in den Ruinen von Moskau zu überwintern. Die für russische Verhältnisse ungewöhnlich milden Herbsttage würden einem Winter weichen, auf dessen Kälte die Grande Armée nicht eingerichtet war. Denn die etwa 60 000 hier stationierten Soldaten besaßen zu wenige Quartiere, in denen man sich vor Frosttemperaturen schützen konnte. Und auch die in so reichem Maße gefundenen Lebensmittel würden nicht einmal bis zum Jahresende reichen.
    Die französischen Vorposten östlich von Moskau befehligte Joachim Murat, von dessen ursprünglich 40 000 Reiter zählenden Kavallerie-Avantgarde nur noch 12 000 übriggeblieben waren, und darin waren die Überreste der Kavallerie des 1. und 3. Armeekorps eingerechnet. Dazu kamen etwa 8000 Infanterie-Soldaten. Die Pferde waren in

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