Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Gemüse aller Art zu verwenden.« In den verlassenen Gärten entdeckte der junge Offizier zu seiner Freude sogar Gemüse: »Mit weißen und gelben Rüben, Kartoffeln und Winterkohl wurden zwei Wagen gefüllt.« Gestört wurde diese Exkursion nur »durch den unerträglichen Gestank« einiger in Verwesung übergegangener Leichen, die zu bestatten niemandem eingefallen war, notiert von Martens weiter.
Als ihn ein andere Offizier, der ihm beim Schreiben der Zeilen zusah, daraufhin kritisierte: »Wer wird auch jede Kleinigkeit aufschreiben«, antwortete er ihm, daß »jeder noch so unbedeutende Umstand« der Geschichte dieses Feldzuges angehöre, »wie es mir gehe, so allen, die sich in gleicher Lage mit mir befinden, und recht glücklich könne sich ein jeder schätzen, dem es nicht schlimmer als mir ergehe«. In der Tat ist das Tagebuch dieses württembergischen Offiziers gerade in den Alltagsdetails ein wichtiges Dokument, auch wenn sein Verfasser es vor der Drucklegung 50 Jahre später spürbar überarbeitet hat.
Zu essen hatten die meisten Soldaten nun genug, allerdings gab es auch in Moskau immer noch Fälle der sogenannten Roten Ruhr (Dysenterie), wie einem Brief des in einem französischen Pionier-Regiment dienenden Soldaten Johann Moritzzu entnehmen ist. Am 20. September schreibt er an seine Familie in Mainz: »Bester Vater, Mutter und Geschwister, ich muß Ihnen sagen, liebster Vater, daß wir nun auch die Hauptstadt von Rußland haben, wonach wir sehr lang uns freuten, um wieder einmal etwas Ordentliches haben zu können. Aber wie groß war unser Erstaunen, da wir sahen bei unserem Einmarsch das Feuer in allen Ecken der Stadt ausbrechen und die Stadt geplündert wurde. Eine Beschreibung von dieser schönen Stadt zu machen bin ich nicht imstand. Häuser wie Schlösser, das Mainzer Schloß ist ein Schildhaus dagegen, der Schaden ist nicht zu berechnen, da es Häuser gibt, die bis Millionen Möbel haben, die ganze Stadt ist abgebrannt, eine Stadt, die 9 Stund im Umkreis hat. Ich hab nie so was Schönes gesehen, die Bürgersleut sind alle fort. Viele Soldaten haben sich bereichert, man fand alles genug, wir haben Wein, Bier, Mehl, Zucker, Kaffee, Konfitüre, Butter, Eier. Es ist nur schade, daß wir nicht vontragen können, und zudem hab ich auch die Krankheit, die wir fast alle hatten, grad wie die Rotruhr, Tag und Nacht sein Not verrichten und Schwellen auf die Füß und das Gesicht geschwollen, viele sterben daran. Es gibt kein Spital, wenn einer krank ist, so ist er sich selbst überlassen. Jetzt liegen wir still, man hört nichts mehr von Russen, sie haben sich zurückgezogen, und wir liegen vor der Stadt im Lager. Es ist sehr kalt nachts unter freiem Himmel, zudem wenn man nicht recht gesund ist. Wenn diese schöne Stadt nicht verbrannt wäre, so hätten wir es gut gehabt, man hätte sich alles kaufen können, denn ich hab sehr notwendig. Das Geld, wo Sie mir geschickt haben, die 20 Fr., habe ich noch all beisammen und noch ein Louisdor dabei und hab auch noch eine schöne Uhr erbeut.«
Napoleon, der von solchen Sorgen nichts wußte, entfaltete eine rege Tätigkeit, um sich das Warten auf Alexanders Friedensbitte zu verkürzen. Täglich verließen zahlreiche Briefe und Befehle Moskau, sie gingen nach Paris (denn schließlich mußte das große Kaiserreich während dieses Feldzugs weiterregiert werden), sie betrafen Aufforderungen an Wien, Berlin und Warschau, die Kontingente aufzustocken, sie gingen nach Wilna an seinen dort residierenden Außenminister Hugues-Bernard Maret, Magazine für Lebensmittel und Kleidung anzulegen. Fast täglich befahl der Kaiser Paraden seiner in Moskau stationierten Regimenter, um sich ihres Zustands und ihrer Schlagkraft zu versichern, aber der Anblick war nur bei den Formationen seiner Garde erfreulich, von den anderen Truppenteilen waren die meisten um die Hälfte oder noch mehr reduziert. Trost spendete ihm dieser Anblick nicht; den fand er in den abendlichen Konzerten, die er im Kreml geben ließ, denn Napoleon liebte Musik.
Anfang Oktober ließ er Armand de Caulaincourt rufen. Der erlebte einen in Illusionen befangenen Napoleon, fernab der realen Verhältnisse: »Am 2. oder 3. Oktober, nachdem er sehr lange keine politischen Gespräche mehr mit mir geführt, fragte mich der Kaiser, ob ich glaube, daß der Zar zum Frieden geneigt wäre, wenn er ihm Eröffnungen mache? Die bereits vorher gemachten erwähnte er dabei nicht. Ich sagte ihm offen meine Meinung: Die freiwillige
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