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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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werde Kutusow angreifen. Schlage ich ihn, wie es wahrscheinlich ist, wird die Sache für den Zaren sehr gefährlich, er könnte heut mit einem Wort ein Ende machen. Wer weiß, was der nächste Feldzug bringen wird? Ich habe Geld und mehr Truppen, als ich brauche. Ich werde 6000 Kosaken bekommen. Im nächsten Feldzug werde ich 15 000 haben. Ich habe jetzt Erfahrung in dieser Kriegführung. Meine Armee wird sich dann an das Land und an den Gegner gewöhnt haben. Das sind Vorteile von unschätzbarem Wert. Nehme ich meine Winterquartierehier und in Kaluga, ja auch nur in Smolensk oder in Witebsk, so ist Rußland verloren. Ich habe (…) alle erträglichen Zugeständnisse gemacht. Nun lasse ich mich nur noch bestimmen durch das Interesse meines Systems, des großen politischen Zieles, das ich mir gesetzt habe. Wenn der Zar ein wenig nachdenken würde, sähe er ein, daß ihn das gefährlich weit treiben kann angesichts eines Menschen meines Charakters, der ihn in keiner Weise mehr schonen wird, weil er auf keins meiner Angebote geantwortet hat. Sie haben recht daran getan, daß Sie diese Mission nicht übernahmen; durch Sie wären diese Leute noch zur Vernunft gekommen!‹
    Wie schon früher in anderem Zusammenhang erwiderte ich ihm, daß man mich ebensowenig angehört haben würde wie Herrn Lauriston. Vielleicht könnte Kutusow, auf dem eine große Verantwortung laste, den Wunsch haben, in Verhandlungen einzutreten, um diese Verantwortung möglichst bald loszuwerden; ich zweifelte aber daran, ob man ihn dazu ermächtigen würde. Es sei auch möglich, daß diese schönen Worte nur ein abgekartetes Spiel seien, um uns die Hoffnung auf eine baldige Verständigung zu belassen und um den Kaiser in Moskau einzulullen. Man kenne in Petersburg die eigenen Vorteile und unsere Verlegenheiten. – Bei den Worten ›Einlullen‹ und ›Verlegenheiten‹ fuhr der Kaiser auf. ›Was meinen Sie mit unseren Verlegenheiten?‹ fragte er wütend. Aber er faßte sich sofort und fragte, noch sichtlich aufgeregt, abermals. – ›Nun, der Winter, Sire, bedeutet schon eine recht große Verlegenheit; dann der Mangel an Magazinen, an Pferden für Ihre Artillerie, an Transportmitteln für Ihre Kranken und Verwundeten, die schlechte Kleidung Ihrer Soldaten. Jeder müßte einen Schafpelz haben, gut gefütterte Handschuhe, eine Mütze zum Schutz der Ohren, lange Socken und Stiefel, damit ihnen nicht die Füße erfrieren. Das alles fehlt Ihnen! Für die Pferde hat man nicht ein einziges Hufeisen mit Winterstollen bereitgestellt. Wie sollen sie da die Artillerie ziehen? Was ich Ew. Majestät über diese Dinge zu sagen hätte,wäre endlos. Dann die Unterbrechung Ihrer Verbindungen. Noch ist das Wetter schön; wie wird es in vierzehn Tagen, in einem Monat, ja vielleicht schon früher sein?‹
    Der Kaiser hatte mich angehört. Ich sah wohl, daß er ungeduldig war; aber immerhin ließ er mich sprechen. Was ich ihm im Hinblick auf einen möglichen Rückzug gesagt, schien ihn nicht weniger erzürnt zu haben als vorher die Worte ›Einlullen‹ und ›Verlegenheiten‹. Vor allem schien er ärgerlich darüber, daß er sich durchschaut sah: ›Sie glauben also, daß ich Moskau aufgebe?‹ ›Ja, Sire!‹ ›Das ist nicht sicher. Nirgends kann ich es besser haben als hier!‹«
    Und nun setzte er Caulaincourt detailliert auseinander, wie der – selbstverständlich siegreiche – Feldzug fortzuführen sei, wobei er immer wieder auf »seine Lieblingsidee«, die polnischen Kosaken als die alle Probleme lösende Wunderwaffe, zurückkam. Daß diese polnischen Kosakenverbände nie aufgestellt wurden, auch nicht aufgestellt werden konnten, weil die Grande Armée im Frühjahr das Herzogtum Warschau seines gesamten Pferdebestands beraubt hatte und weil außerdem Pferdefutter nicht mehr existierte, das vermochte er nicht einzusehen.
    Hätte der Napoleon von 1805 dem von 1812 gegenübergestanden, er wäre entsetzt gewesen. Der Sieger von Austerlitz war ein realistischer, illusionsloser Beobachter gewesen, der seine Lage präzise einzuschätzen verstand und seine Entscheidungen nach kühlem Erwägen traf. Diesen Napoleon gab es bis zum Frieden von Tilsit 1807. Dann aber erlag er der Verblendung eines sieggewohnten Eroberers, der sich als Herr Europas verstand. Mit dem Krieg gegen Spanien 1808 jedoch, seinem ersten Angriffskrieg, hatte sein Niedergang begonnen. Damals hätte er aus dem so erfolgreich geführten Partisanenkrieg der Spanier nun in bezug auf die Russen

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