Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
fanden sie auch. Ein ziemlicher Vorrat von Brot und Mehl, ein bedeutenderer an Branntwein lohnte unsere Forschungen. Alles, soviel es unsere mitgeführten Transportmittel gestatteten, wurde für gute Prise erklärt und mitgenommen. Aus dem Tierreich stand uns außer einigen mageren Hühnern nichts zur Verfügung; sämtliche Vierfüßler schienen zugleich mit ihrer Herrschaft ihr geliebtes Selso-Carachin – so hieß dieses Dorf, wie uns von einem alten Bauern berichtet wurde – verlassen zu haben.«
Gelegentlich wurden westphälische und württembergische Soldaten mit Aufträgen von Moshaisk nach Moskau geschickt und kamen in eine Stadt, die ihnen zuweilen etwas irreal erscheinen mußte. So ging es dem westphälischen Musikmeister Friedrich Klinkhardt, der Anfang Oktober mit einer kleinen Abteilung seines Husaren-Regiments nach Moskau kam, um Lebensmittel zu holen: »Hier hielt ein Soldat im Kreise aufmerksamer Zuhörer eine gewaltige Rede, dort wurde ein Ehrenhandel ausgefochten, bald ließ ein Musikkorps seine Weisen erschallen, und bald sah man hohe Offiziere Arm in Arm in den Straßen lustwandeln. Aus den Fenstern der Paläste blickten vergnügte Gesichter, und sogar schöne Frauen nickten uns zu. Alles voller Bewegung und voll Lebens. Von der Not des Krieges merkten wir nicht viel, bis wir am Fuße des Kremls anlangten und sich hier unseren Blicken ein anderes Bild bot. Große und breite Straßen waren zu Brandruinen verwandelt; wohin wir schritten, überall rauchende Trümmer, in denen jeder Windstoß eine helle Flamme erzeugte. Erstickender Qualm drang von allen Seiten hervor, und die Greuel des Krieges standen wieder vor unserem entsetzten Antlitz. Wir rückten auf einen einigermaßen gesichertenPlatz. Unser Leutnant ließ uns absitzen und kam nach einer Stunde mit dem Bemerken zurück, daß er Quartier für uns gefunden habe. Wir ritten nun über viele Trümmer hinweg rechts vom Kreml in eine Seitenstraße hinein und gelangten endlich an ein mit Ställen umgebenes Haus, welches das ganze Kommando aufnahm. Hier fanden wir Stroh, Heu und Hafer in genügender Menge, so daß auch unsere armen Pferde sich seit langer Zeit wieder einmal richtig sättigen konnten. Während unsere Husaren eine gute Abendmahlzeit bereiteten und in einem Saale des Hauses ein molliges Strohlager herrichteten, begab ich mich mit meinem Leutnant nach dem Kreml zurück, um unseren Generallieferanten dort aufzusuchen. Wir fanden ihn auch in einem herrschaftlichen Hause in der Nähe des Kreml. Hier wimmelte es von Soldaten, die tüchtig zechten und einen gewaltigen Lärm vollführten. Wir wurden sofort von dem General-Kommissar empfangen, mit Kuchen und Wein bewirtet und schließlich zum Lebensmittel-Empfang auf den anderen Morgen um 10 Uhr bestellt. Der Posten vor dem Hause, ein erfahrener und verständiger Gardist, begrüßte uns, und von ihm erfuhren wir dann, wie es stehe. Er verhehlte uns seine Sorge nicht, schilderte uns, wie man nicht wage, die Soldaten einzuquartieren, weil ihnen alsbald das Haus über dem Kopfe angezündet würde, wie die Lebensmittel verwüstet würden und sicherlich sehr bald wieder Not eintreten werde.« Denn noch immer gab es Brandstifter.
Leutnant Christian von Martens fand am 26. September mit einigen Offizieren seines Regiments ein neues Quartier gegenüber dem Pfarrhaus einer evangelischen Kirche. Die Familie des Pfarrers – »sehr wackere und feingebildete Leute« – ließ es den Besatzern an nichts fehlen. Am 1. Oktober notiert Martens in sein Tagebuch: »Nach einigen freundlichen Tagen traten wieder Regen und empfindliche Kälte ein, so daß wir heute zum ersten Mal die russische Heizung in Anwendung brachten; diese findet in einer von Backsteinen errichtetendünnen Doppelwand statt, welche unsere zwei Stuben voneinander trennte, und verbreitet eine sehr angenehme Wärme; die Einrichtung wäre uns unbekannt geblieben, wenn wir nicht durch die zwei uns vom evangelischen Pfarrer empfohlenen russischen Dienstmädchen darauf aufmerksam gemacht worden wären. Diese zwei Personen waren uns von großem Nutzen, sie besorgten unsere Wäsche, die Heizung, das Erforderliche für die Küche und Reinigung der Wohnung; wiewohl sie unsere Sprache nicht verstanden, faßten sie alles sehr leicht auf und waren schnell mit jedem Auftrag im reinen.« Die beiden Russinnen verstanden sich auch auf das Brotbacken, während von Martens selbst das Kochen übernahm. »Hierzu hatten wir Reis, Fleisch, marinierte Fische und
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