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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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mußte sich selbst mit vieler Mühe durch dieses Chaos winden, und obwohl alles einsah, daß es unmöglich sein könne, diesen ungeheuren Troß mit sich zu schleppen, so wurden dennoch keine Befehle gegeben, ihn zu verlassen, was auch schon deswegen nicht wohl sein konnte, weil man so viele für das Ausgestandene ihrer Freude nicht berauben wollte, auch weil die Beutewagen immer mit Lebensmitteln, die man hier so notwendig hatte, beladen waren und im Notfalle auch die Kranken und Verwundeten auf diesen Wagen und Kaleschen fortgeschafft werden konnten; auch dachte man vielleicht, daß einige Kosakenschwärme, ohne andere Befehle nötig zu haben, die Eigentümer veranlassen werden, sie stehenzulassen, welch letzteres auch nur zu häufig geschehen ist. Unter diesem Troß befanden sich auch viele durch die Revolution in Frankreich vertriebene Franzosen mit ihren Familien, die den Schutz des Kaisers anflehten, wieder in ihr Vaterland zurückkehren zu dürfen; was konnten sie anders tun?«
    Diesen riesigen Troß schätzte man damals auf 32 000 Menschen, nicht nur Revolutionsflüchtlinge, sondern auch Schauspieler, Handwerker, Kaufleute ausländischer Herkunft, die um ihr Leben bangten, weil sie in Moskau geblieben waren und deswegen als Kolaborateure denunziert wurden. Unter normalen Umständen hätte nicht einer von ihnen Moskau verlassen. Napoleons erste Sorge hatte den Verwundeten gegolten: »Ich möchte nicht einen einzigen Mann in diesem Lande lassen«, sagte er am Tag des Auszugs zu General Jean Rapp. »Lieber würde ich alle Schätze Rußlands im Stich lassen als hier einen einzigen Verwundeten. Es sollen Pferde, Kutschen, Packwagen, alles Erdenkliche benutzt werden, um sie fortzuschaffen.« Die ersten Verwundetentransporte hatten Moskauschon am 15. Oktober verlassen; auch in Moshaisk war mit der Evakuierung begonnen worden, dort lagen noch immer etwa 2000 Verwundete und Kranke. Aus den zurückgelassenen Vorräten des Moskauer Hospitals versorgte sich Regimentsarzt Groß, gerade selbst von einer schweren, sein Leben bedrohenden Dysenterie genesen, mit Haselnüssen, vor allem aber mit wärmender Kleidung: einem großen Bärenpelz, Pelzhandschuhen und einem unmittelbar um den Leib geschlungenen großen Seidentuch, von dem er später meinte, dieses Tuch habe »sehr viel dazu beigetragen, mein Leben zu erhalten«. Von den Soldaten waren es meist nur die Offiziere, die jetzt, in diesen heiteren Oktobertagen, daran dachten, sich nicht mit Geld und Juwelen, sondern mit warmer Kleidung und Schuhwerk zu versorgen. Beliebt waren Kaffee und Tee. Auch Groß packte »drei mit Hundefellen überzogene Kisten mit Karawanentee« in seinen Wagen. Den Soldaten hatte der fünfwöchige Aufenthalt in Moskau gutgetan, denn sie waren endlich nach langem Darben wieder gut verpflegt worden, hatten ihre strapazierten Uniformen und ihr Schuhwerk instand gesetzt und galten nicht als demoralisiert. Daß sie im abgebrannten Moskau nicht würden überwintern können, war ihnen bewußt; sie vertrauten auf Napoleons Versprechen, sie in gute Winterquartiere zu führen, und seit Tagen ging das Gerücht, man würde über Kaluga nach Süden vorstoßen und zurückmarschieren durch sehr fruchtbare, vom Krieg gänzlich verschonte Gebiete. Dies war in der Tat Napoleons Plan.
    Doch die meisten der Soldaten sollten nie dort ankommen. Bei der 10 000 Einwohner zählenden Stadt Malojaroslawez stießen in der Frühe des 24. Oktober das aus Franzosen, Kroaten, Bosniern, Spaniern, Polen, überwiegend aber Italienern bestehende 4. Armeekorps unter dem Kommando von Napoleons Adoptivsohn Eugène de Beauharnais auf die Russen, und aus den ersten Gefechten entwickelte sich schließlich eine zehn Stunden währende Schlacht, in denen die Stadt fünfmal den Besitzer wechselte, ehe endlich die italienischeGarde-Division den Sieg für sich entschied. Von dem bei Kriegsbeginn ursprünglich 50 000 Soldaten zählenden 4. Armeekorps waren nur noch 22 000 übriggeblieben, und doch gelang es ihm, die sich im Laufe des Tages auf 70 000 Soldaten verstärkende russische Armee zu schlagen und sich in den Besitz der Stadt zu setzen, von der allerdings kein Haus mehr stehen geblieben war. Das Korps hatte 5000, die Russen 8000 Mann an Toten und Verwundeten verloren. »Malojaroslawez war in Flammen aufgegangen, und sein Inneres bot den schaudervollsten Anblick dar«, schreibt Leutnat von Kurz. »Alle Straßen waren dicht mit Leichen bedeckt, unter dem Schutte der verbrannten Häuser

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