Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
diesem schlechten Nachtlager nach dem mühseligen Tage zufrieden. Aber der Tee, den unsere Diener uns auftischten und der mit einigem Brot unser ganzes Abendessen ausmachte, welches bei einem brennenden Kienspan verzehrt wurde, schmeckte ganz abscheulich, so daß niemand von uns Lust hatte, ein zweites Glas zu trinken. Indessen am andern Morgen, als es hell wurde, wollten wir doch etwas Warmes genießen, ehe wir uns zu Pferde setzten, und waren sehr ärgerlich, als die Dienerbei unserem Ruf nach Tee sehr verlegen erklärten, es wäre kein Wasser da. ›Wo habt ihr denn gestern Abend das Wasser herbekommen?‹ – ›Aus dem Brunnen hier im Hofe.‹ – Nun, so nehmt es wieder davon!‹ – ›Das geht nicht!‹ – Endlich kam die Sache heraus, denn wir wurden an den Brunnen geführt. Am Abend in der Dunkelheit hatten die Diener daraus geschöpft und das trübe Wasser ohne Untersuchung uns zum Tee gekocht; am Morgen in der Helligkeit fand es sich aber, daß er ganz voller verwester Leichen und das braune Wasser fast einem Brei ähnlich war, und den hatten wir getrunken!«
Besonders schlimm traf es die aus Moskau geflohenen Zivilisten im Gefolge der Grande Armée . »Ehe wir Smolensk erreichten«, schreibt Leutnant Karl von Kurz, »waren diesem allgemeinen Elend meist schon die von Moskau gefolgten Kaufleute, Künstler, Sprachlehrer, Sängerinnen und Tänzerinnen, Putzmacherinnen, Haarkünstler und zahlreiche Kinder von jeder Altersstufe – die denselben oder den Frauen der Armee angehörten – oft auf die schauerlichste Art erlegen. Man sah Szenen auf dieser Straße, die den Gefühllosesten schaudern machten. Zarte Frauenzimmer von der edelsten Bildung, deren Equipagen schon längst eine Beute der Kosaken waren, sah man zu Fuß, in Zeugschuhen und in leichte Kleider von Seide oder in einzelne Stücke von Pelz gewickelt, einherwanken. Oft mußten sie dem schimpflichsten Dienste das Stückchen Brot abgewinnen, das sie den andern Tag ernähren sollte, bis das Elend und die Erschöpfung auch die letzten Reize abstreifte. Zuletzt war diesen bedauernswerten Mädchen die Kraft benommen zu gehen, und erschöpft sanken sie auf dem Eisfeld nieder, wo sie hilflos, ohne Mitleid zu erregen oder einen mildtätigen Blick auf sich zu ziehen, dem elendesten Tode preisgegeben waren.«
Am 4. November erreichten die ersten Einheiten der Grande Armée erneut Smolensk.
14. SMOLENSK
Smolensk bot der erschöpfen Armee zum ersten Mal seit Beginn des Rückzugs für kurze Zeit Rast. Seit dem 28. September stand hier das zur Reserve bestimmte 9. Armeekorps unter Marschall Victor, insgesamt 35 567 Soldaten: badische, bergische, sächsische, hessische und polnische Einheiten, die allerdings schon auf 25 000 Mann zusammengeschmolzen waren. Diese Truppen mußten einen Monat später in Richtung Sjenno ausrücken, um das 2. und 6. Armeekorps zu unterstützen, die von den Russen hart bedrängt wurden. Die russische Nordarmee unter General Wittgenstein hatte das schon stark geschwächte vereinigte 2. und 6. Armeekorps zurückgeworfen, Polozk und Witebsk besetzt und befand sich jetzt im Vormarsch auf Orscha und Borisow, um Napoleon den Weg zu verlegen. Erst dem Eingreifen des 9. Armeekorps war es zu danken, daß die russische Offensive einstweilen zum Stillstand kam.
Die Hauptarmee rückte zwar nur zögernd vor, doch befanden sich nun immerhin vier russische Korps in bedrohlicher Nähe der Grande Armée: Miloradowitsch folgte mit den Kosaken Platows auf der Rückzugsstraße unmittelbar dem zurückgehenden Feind; Kutusow marschierte von Kaluga aus über Jelnja vor; Wittgenstein hatte die Düna überquert, und aus dem Süden erschien die Moldau-Armee des Admirals Tschitschagow, deren Spitzen bereits vor Minsk standen. Die Vorhut von Napoleons Armee, die am 4. November in Smolensk eingetroffen war, hatte dort noch leidliche Verhältnisse angetroffen. Als Leutnant Christian von Martens am 7. November um 13 Uhr Smolensk erreichte, wunderte er sich, daß in der Oberstadt noch ganze Straßenzüge unversehrt waren, fand dort auch das württembergische Spital, dem er Verwundetentransporte ankündigte, und war so glücklich, in diesem Haus ein Zimmer zu bekommen. Auch die wenigen Pferde, über die er und seine Kameraden noch verfügten, »bekamen wieder ordentliches Futter« und ihre Besitzer »köstliches Brot und Fleisch«. Am 7. und 8. ging es in Smolensk noch ruhig zu, und Lebensmittel waren sehr preiswert zu haben, nur war Glatteis auf den Straßen,
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