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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Kopf, von welchem außerordentlich langes, schwarzes, glänzendes Haar über ihre ganze Gestalt herunterfloß. Mit dem wildesten Ausdruck der Seelenqual warf sie ihre Arme in die Höhe und rief fortwährend wie im Wahnsinn Rendez moi mon enfant – gebt mir mein Kind zurück! Als man sie so weit beruhigt hatte, daß sie ihre Geschichte erzählen konnte, berichtete sie, man habe ihr, als sie aus Schwäche niedergesunken, ein neugebornes Kind geraubt; dann hätten ihre Begleiter ihr die Kleider vom Leibe gerissen und ihr mehrere Messerstiche versetzte, damit sie nicht lebendig in die Hände der Verfolger falle.
    Selbst unter den Russen gab es Beispiele – und nicht selten –, daß wohlwollend gesinnte und hochgebildete Männer zu Maßnahmen von gleich unverantwortlichem Charakter schritten, um langen Qualen ein Ende zu machen. Als General Benningsen und der englische General mit ihren Stäben sich eines Tages auf dem Marsch befanden, stießen sie auf eine Kolonne von 700 nackten Gefangenen, eskortiert von Kosaken; diese Kolonne hatte, nach dem bei dem Aufbruch ausgestellten Schein, aus 1250 Mann bestanden, und der Kommandant gab an, er habe sie, da die ursprünglichen Bestandteile liegengeblieben wären, zweimal aus den unterwegs aufgegriffenen Gefangenen erneuert und stehe jetzt wieder im Begriff, die Zahl zu vervollständigen.
    Unter dieser Schar von Unglücklichen befand sich ein jungerMann, der durch sein Aussehen und dadurch, daß er von der Hauptmasse sich ein wenig entfernt hielt, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Offizier von General Benningsens Stab, ein Mann von hohem Range (Großfürst Konstantin) , fragte ihn, nachdem er sich bei dem Gefangenen nach seinem Vaterland, seinem Grad und den Umständen seiner Gefangennehmung erkundigt, ob er sich unter den gegenwärtigen Umständen nicht den Tod wünschte. ›Gewiß‹, sagte der Unglückliche, ›wenn ich nicht befreit werden kann; denn ich weiß, daß ich in wenigen Stunden vor Kälte erstarrt oder von der Lanze eines Kosaken sterben muß, wie ich es von vielen hundert Kameraden gesehen habe, wenn sie vor Kälte, Hunger oder Ermüdung nicht mehr mit fortkommen konnten. Ich habe Verwandte und Freunde in Frankreich, die mein Schicksal beweinen werden – um ihretwegen wünschte ich zurückzukehren; aber das ist unmöglich, je eher also diese Schmach und diese Qualen zu Ende gehen, desto besser.‹ Der hochgestellte Offizier versicherte ihm dann, wie er sein Schicksal im tiefsten Herzen bemitleide, daß aber Hilfe zu seiner Errettung unmöglich sei; wünsche er jedoch wirklich, sofort zu sterben, und wolle er sich auf den Rücken legen, so wolle er ihm, als einen Beweis der Teilnahme, die er für ihn fühle, selbst den Todesstreich geben.
    General Benningsen war eine kleine Strecke vorausgeritten, aber der englische General, der sein Pferd angehalten hatte, um dem Gespräch zuzuhören, protestierte jetzt gegen den Gedanken, als er den grausamen Vorschlag vernahm, und wies dringend auf die Notwendigkeit hin, den unglücklichen Offizier, denn als einen solchen stellte er sich heraus, um jeden Preis zu retten, nachdem man durch Anknüpfung eines Gesprächs Hoffnungen in ihm erregt hatte.
    Als der englische General sah, daß man auf der andern Seite keineswegs geneigt sei, seine Absicht aufzugeben, gab er seinem Pferde die Sporen, um den General Benningsen herbeizurufen; bevor er ihn jedoch einholte, drehte er sich zufälligum und sah den russischen Offizier, der abgestiegen war, mit seinem Säbel den verhängnisvollen Streich führen, welcher das Haupt fast vom Rumpfe trennte! Dieser Offizier ließ sich auch später nicht überzeugen, daß er etwas Tadelnswertes getan. Er verteidigte die Tat durch den Beweggrund und durch die Erlösung, die er dem Unglücklichen gebracht, da kein Mittel vorhanden gewesen sei, ihn zu retten, und selbst wenn sich eins dargeboten hätte, niemand gewagt hätte, es anzuwenden.«
    Empört über diese Greueltaten, schickte Sir Robert Wilson unverzüglich einen Bericht an den Zaren mit der Bitte, dagegen einzuschreiten. Alexander reagierte umgehend, indem er einen Sonderkurier aussandte mit der Anweisung, alle an Gefangenen verübten Grausamkeiten sofort strengstens zu verbieten, und daß die Behörden für jeden abgelieferten Gefangenen den Bauern eine Prämie zahlen sollten. Geholfen hat das wenig. Nicht nur, daß man den die Gefangenentransporte begleitenden Wachmannschaften daraufhin noch höhere Summen bot, diesen war der Befehl

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