Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
den absoluten Mangel an Empfindsamkeit anderen und sich selbst gegenüber. Sie erkranken in einem verlassenen Dorf an Faulfieber, leben dort zwölf oder fünfzehn Tage in größter Not, einen Monat danach sprechen sie darüber, als läge alles weit zurück. Sie tun es vor allem, das spüre ich wohl, weil sie davonüberzeugt sind, daß ihre Zuhörer sich einen Dreck daraus machen, aber in Wirklichkeit erinnern sie sich nicht mehr daran. Ich habe das bei einem Bataillonschef des 46. (Infanterie-Regiments) , mit dem ich den Weg von Moskau hierher gemacht habe, bestätigt gefunden. Meine Kollegen hingegen wollen aus ihren Ärgernissen einen Vorteil herausschlagen, ziehen ein langes Gesicht und haben ein verbittertes Herz.
Von dieser Reise möchte ich Dir erzählen. Ich hatte einige Notizen gemacht, die ich verloren habe. Wenn ich einen Gedanken einmal gehabt habe, kommt er nicht wieder, er verursacht mir Ekel. Allein diese Reise lohnt meine Abreise aus Paris, weil ich dort Dinge gesehen und empfunden habe, die ein seßhafter Schriftsteller auch in tausend Jahren nicht ahnen würde.«
15. KRASNOJE
Was machte eigentlich Albrecht Adam? Der Künstler, der es ablehnte, mit französischen Generalen Bilder zu stehlen und sich in Moskau ziemlich überflüssig vorkam, bat seinen Dienstherrn, Eugène de Beauharnais, um die Genehmigung, nach Hause fahren zu dürfen. Das wurde ihm gestattet; Adam bekam 50 Louisd’or Reisegeld und eine »Marschroute«, das heißt eine Liste der Relaisstationen, bei denen ihm Unterkunft und Verpflegung gewährt werden mußten. Er verfügte über einen Wagen mit zwei Pferden, ließ sich von einem sechzigjährigen Tierarzt begleiten und einem »jungen Polen als Diener, der russisch, deutsch und französisch sprach«. Natürlich wurde der nötige Reiseproviant eingepackt: »Brot, Schinken, geräuchertes Fleisch, Käse, Reis usw. Auch mit Getränken, Rum und verschiedenem Branntwein wurde ich versorgt. Einen guten Pelz und andere kleine Fahrnisse hatte ich schon früher gegen billigen Preis erstanden. Ich bezahlte alles. Mit reinen Händen verließ ich Moskau, obwohl es mirnicht an Gelegenheit fehlte, Schätze zu sammeln.« Zwei deutsche Kaufleute mit ihren Frauen und Kindern schlossen sich in einem zweiten Wagen an.
Am 24. September – »bei stürmischem, naßkaltem und höchst unfreundlichem Wetter« – wurde aufgebrochen. Am westlichen Stadtausgang von Moskau wurden Adams Papiere von einem französischen General geprüft, der ihn vor der Fahrt über eine von Kosaken und Bauernmilizen kontrollierte Straße eindringlich warnte, wovon sich Adam aber nicht abhalten ließ. Schon am zweiten Tag blieb man auf der vom Herbstregen aufgeweichten Straße stecken, doch eine Patrouille französischer Garde-Dragoner half, den Wagen wieder flottzumachen, nachdem der Leutnant für die Hilfeleistung eine Flasche Schnaps verlangt und bekommen hatte. In der Nähe fand sich ein verlassener Packwagen, beladen mit einem Zentner Tee, von dem man sich ausgiebig bediente; zuvor hatte schon der polnische Diener eine wahre Rarität am Straßenrand entdeckt: einen Sack Salz.
Immer wieder begegneten die Reisenden in kleinen Gruppen Nachzüglern. Sie alle, unterwegs nach Moskau, warnten vor den Kosaken, die sich hin und wieder am Horizont sehen ließen. Einige dieser Nachzügler hatten Schafe erbeutet, von denen Adam eins im Tausch gegen Brot und das kostbare Salz abhandelte. Doch war das Pferdefutter am vierten Tag verbraucht, die Tiere ernährten sich nun von spärlichem Gras, junger Baumrinde und dem alten Stroh auf selten anzutreffenden Häusern. Eines der Pferde starb, doch Adam konnte einigen weiteren Nachzüglern ein starkknochiges russisches Bauernpferd für zwei Louisd’or abkaufen. So erreichte man am 27. Moshaisk, wo die Reisenden beim Relais Verpflegung für die Menschen und Futter für die vier Pferde bekamen.
Im Kloster Kolotzkoi fanden Mensch und Tier Nachtquartier in einem Schuppen, und am nächsten Tag schlossen sich drei junge jüdische Kaufleute aus Glogau an, die von einer Geschäftsreise aus Moskau zurückkehrten. Vor Semlewokonnte Adam französischen Soldaten ein Pferd abkaufen, nachdem wieder eines gestorben war. So erreichte man nach 14 Tagen, am 8. Oktober, Smolensk, wo es damals noch ausreichend Futter für die Pferde gab, und nach zwei Tagen Rast ging es »bei prächtigem Wetter« nach Minsk, wo die Reisenden am 23. ankamen, nachdem man sich gründlich verfahren hatte und nur knapp einem
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