Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
und der württembergische Regimentsarzt Schlayer griff zum Rasiermesser »und schnitt sich den Hals ab«.
Christian Wilhelm von Faber du Faur: Biwak in Smolensk, den 13. November 1812. – Vor den Ruinen der ausgebrannten Häuser stehen Kanonen der württembergischen Artillerie. Rechts wärmt sich eine Gruppe am Feuer, kaum noch als Soldaten kenntlich. Die Kälte von über minus 20 Grad Celsius zwang sie zu dieser ungewöhnlichen Kostümierung, sie mußte nur wärmen.
Am 9. November war es mit der Ruhe vorbei, denn nun traf die Masse des zerrütteten Heeres ein, plünderte sofort und mißhandelte die Einwohner. Napoleon hatte geglaubt, hier Lebensmittel für zwei Wochen zu finden, aber die beiden großen Magazine waren kaum gefüllt, der Kaiser tobte und wollte den zuständigen Proviantmeister erschießen lassen. Auch am folgenden Tag hielt der Zuzug an, und die Wut derer, denen man seit Wochen Smolensk als das große Lebensmittel- und Versorgungsparadies verheißen hatte und die nun nichts fanden, war ungeheuer. »Das ziemlich geordnete Leben«, schreibt von Martens ins Tagebuch, »das wir bei unserer Ankunft hier antrafen,war wie mit einem Schlag umgestoßen; Leichen der Bewohner und der verhungerten und erfrorenen Soldaten wie auch tote Pferde lagen schon zahlreich auf den Straßen herum, einzelne Gruppen saßen in Lumpen eingehüllt an den Biwakfeuern, die in den Straßen dicht an den Häusern entstanden sind, und verzehrten das zähe Fleisch der zu Tod gemarterten Pferde, unbekümmert, ob das Haus in Feuer aufgehe oder nicht.«
Die Lebensmitteltransporte, mit denen man die zwei Magazine hatte füllen wollen, beliefen sich nur auf 200 Zentner Mehl und Reis und einige hundert ziemlich abgetriebene Zugochsen. Ausgegeben wurde etwas Brot, Reis, Mehl und Branntwein, aber mit der Ausgabe haperte es, und als man sie unterbrach in der Hoffnung, nun würde sich allmählich die Ordnung wiederherstellen lassen, stürmten die empörten Soldaten in der Nacht vom 11. auf den 12. November die Magazine. »Wut ergriff sie beim Anblick der Hunderte wohlgenährter, übermütiger Verpflegungsbeamten, die schon monatelang im Überfluß in Smolensk schwelgten«, schreibt Leutnant Karl von Kurz. »Wie Tiger auf ihre Beute stürzten sie sich auf dieselben und mißhandelten sie fürchterlich.« Leutnant von Kurz gibt ein anschauliches Bild von der Plünderung der Magazine: »Die grenzenloseste Willkür herrschte, der zu steuern keine geregelte, bewaffnete Macht da war, indem die dabei aufgestellten Wachen zu ohnmächtig waren. Viele wurden im Getümmel des engen Raumes erdrückt; andere, die sich aus dem Gedränge frei machten, wurden von den außerhalb Wartenden um einen Laib Brot oder eine Flasche Branntwein, die man ihnen zu entreißen bemüht war, verwundet oder gar getötet. Verzweiflung rang mit Verzweiflung! Zuletzt wurden die Fässer eingeschlagen und so das meiste ausgegossen und niedergetreten, was so viele Tausende erquickt und erhalten hätte. – Viele berauschten sich im Branntwein so sehr, daß sie in wenigen Stunden den Geist aufgaben. In kurzer Zeit waren alle Magazine leer, die Branntweinfässereingeschlagen und Mehl und Reis größtenteils verschüttet, während zwei Drittel des Heeres hungerten und sich abermals mit Pferdekost begnügen mußten.«
Wieder traf es besonders hart die Verwundeten. Obwohl viele auf den Transporten erfroren waren, betrug ihre Zahl in Smolensk etwa 5000. Chefchirurg Dominique Larrey schrieb später, die meisten Verwundeten seien nicht ihren Verletzungen erlegen, sondern zwischen Moskau und Smolensk verhungert. Aber auch in Smolensk konnte er keine Nahrung für sie beschaffen. Napoleon hatte verfügt, alle vom Feuer verschont gebliebenen Gebäude, also auch Wohnhäuser, mit diesen Opfern zu belegen, aber fortschaffen konnte man sie nicht mehr. Es existierten kaum noch Wagen, und wenn es Wagen gab, fehlte es an Pferden, die sie ziehen konnten. Beim Abzug mußte man alle Verwundeten zurücklassen und der Gnade der Russen anheimstellen. Angeblich sind alle von den Kosaken, gemeinsam mit den Bürgern von Smolensk, massakriert worden.
Inmitten des Elends und der verzweifelten Suche nach Lebensmitteln – Sergeant Leifels berichtet, daß ihm etwas Mehl, das er aus dem Magazin erhalten hatte, kurz darauf von seinen eigenen Kameraden geraubt wurde – gab es auch spärliche Glücksmomente. Leutnant Friedrich Peppler vom Leibregiment des Großherzogtums Hessen-Darmstadt mußte mit den Offizieren
Weitere Kostenlose Bücher