Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Ich liebe diesen Film.« Sie schob ein Stück Olive von einer Seite ihres Tellers auf die andere, während sie nach den richtigen Worten suchte. Es war unmöglich, es gab keine richtigen Worte. Sie kam am besten einfach zur Sache. »Du hast mich an dem Abend auf dem Dach etwas gefragt. Du wolltest wissen, ob damals, als wir noch Kinder waren, irgendetwas Schlimmes passiert ist. Erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich.«
»Wirklich?«
Gerry nickte nachdrücklich.
»Weißt du auch noch, was ich dir geantwortet habe?«
»Ich glaube, du hast gesagt, du könntest dich an nichts Derartiges erinnern.«
»Ja. Das habe ich gesagt«, antwortete sie leise. »Aber ich habe dich angelogen, Gerry.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie das um seinetwillen getan hatte, dass sie damals geglaubt hatte, das Richtige zu tun. Beides stimmte, aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie wollte sich nicht rechtfertigen. Sie hatte gelogen, und egal welche Vorwürfe man ihr jetzt machte, sie hatte sie alle verdient – nicht nur dafür, dass sie Gerry die Wahrheit vorenthalten hatte, sondern auch für das, was sie damals den Polizisten erzählt hatte. »Ich hab gelogen.«
»Das weiß ich«, sagte Gerry und schob sich den letzten Bissen seiner Pizzakruste in den Mund.
Laurel blinzelte. »Du weißt es? Woher?«
»Du konntest mich nicht ansehen, als ich dich gefragt habe, und du hast mich ›G‹ genannt. Und das tust du nur, wenn du nicht die Wahrheit sagst.« Er zuckte die Schultern. »Du magst vielleicht die größte Schauspielerin der Nation sein, aber gegen meine Deduktionskünste hast du keine Chance.«
»Und da behaupten alle, du wärst im Alltag nie ganz bei der Sache …«
»Ach ja? Das wusste ich nicht. Das ist niederschmetternd.« Sie lächelten einander an. Dann sagte Gerry: »Willst du es mir jetzt erzählen, Lol?«
»Ja. Unbedingt. Willst du es immer noch wissen?«
»Ja. Unbedingt.«
Sie nickte. »Also gut.« Sie erzählte die Geschichte von Anfang an: Ein Mädchen im Baumhaus an einem Sommertag im Jahr 1961, ein Fremder in der Einfahrt, ein kleiner Junge in den Armen seiner Mutter. Besonders ausführlich beschrieb sie, wie sehr die Mutter den kleinen Jungen liebte, wie sie vor der Haustür stehen geblieben war, nur um ihm ein Lächeln zu schenken, seinen milchsauren Duft einzuatmen, ihm die Füße zu kitzeln; doch dann trat der Mann mit dem Hut auf die Bühne, und der Scheinwerfer richtete sich auf ihn. Seine vorsichtigen Schritte, als er durch die Gartenpforte neben dem Haus trat, wie der Hund als Erster gewusst hatte, dass sich etwas zusammenbraute, wie er mit seinem Gebell die Mutter gewarnt hatte, die sich umgedreht und den Mann gesehen hatte, während das Mädchen im Baumhaus, das die Szene beobachtete, plötzlich Angst bekam.
Als sie die Szene beschrieb, in der das Messer ins Spiel kam und Blut floss und der kleine Junge weinend auf dem Boden saß, dachte Laurel, während sie ihrer eigenen Stimme lauschte, die von außerhalb ihres Körpers zu kommen schien, und das Gesicht ihres erwachsenen Bruders beobachtete, wie seltsam es war, ein so intimes Gespräch in der Öffentlichkeit zu führen, und wie sehr sie gleichzeitig die Geräusche dieser Pizzeria brauchte, um die Geschichte überhaupt erzählen zu können. Hier in der Pizzeria Cambridge, umgeben von lachenden, lärmenden Studenten und jungen Dozenten, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten, fühlte Laurel sich aufgehoben und sicher, irgendwie entspannter und in der Lage, Worte auszusprechen, die sie in der Stille von Gerrys College-Wohnung nicht über die Lippen gebracht hätte. Wörter wie: »Sie hat ihn umgebracht, Gerry. Der Mann – er hieß Henry Jenkins – ist an dem Tag hinter unserem Haus gestorben.«
Gerry hatte aufmerksam zugehört, den Blick auf die Tischdecke geheftet, das Gesicht ausdruckslos. Jetzt zuckte ein Muskel an seinem Kinn, und er nickte kaum merklich, aber eher, um zu signalisieren, dass er das Ende der Geschichte mitbekommen hatte. Laurel wartete, trank ihr Glas aus und schenkte beiden nach. »So«, sagte sie. »Das war’s. Das ist es, was ich gesehen habe.«
Nach einer Weile blickte Gerry auf. »Tja«, sagte er. »Das erklärt es also.«
»Was erklärt es?«
Seine Finger zitterten, als er antwortete: »Als Kind habe ich immer wieder diesen Schatten gesehen, aus dem Augenwinkel, einen dunklen Schatten, der mir ohne jeden Grund Angst gemacht hat. Schwer zu beschreiben. Ich hab mich umgedreht, aber da war nichts, nur
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