Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
dieses schreckliche Gefühl, dass ich mich zu spät umgedreht hatte. Jedes Mal schlug mir das Herz bis zum Hals, und ich hatte keine Ahnung, warum. Einmal hab ich Ma davon erzählt. Sie ist mit mir zum Augenarzt gegangen.«
»Hast du deswegen eine Brille bekommen?«
»Nein. Es hat sich rausgestellt, dass ich kurzsichtig bin. Gegen den Schatten hat die Brille nicht geholfen, aber plötzlich konnte ich die Gesichter der Leute deutlicher sehen.«
Laurel lächelte.
Gerry lächelte nicht. Der Wissenschaftler in ihm war erleichtert, endlich eine Erklärung für etwas bisher Unerklärliches zu haben, das wusste Laurel, aber der Sohn, der seine Mutter liebte, war nicht so leicht zufriedenzustellen. »Gute Menschen tun manchmal schlimme Dinge«, sagte er. Dann raufte er sich die Haare. »Verdammt. Was für ein elendes Klischee.«
»Trotzdem stimmt es«, sagte Laurel, um ihn zu trösten. »Und manchmal haben sie gute Gründe dafür.«
»Welche denn?« Er schaute Laurel an, und plötzlich war er wieder der kleine Junge, der verzweifelt hoffte, von Laurel mit einer plausiblen Erklärung beruhigt zu werden. Sie konnte es ihm nachfühlen. Eben noch hatte er ihr fröhlich die Wunder des Universums erklärt, und jetzt eröffnete ihm seine große Schwester, dass seine Mutter einen Mann getötet hatte. »Wer war der Typ, Lol? Warum hat sie das getan?«
So schnörkellos wie möglich – bei Gerry war es am besten, an seine Logik zu appellieren – erzählte Laurel ihm, was sie über Henry Jenkins wusste, dass er ein Schriftsteller gewesen war, verheiratet mit Vivien, mit der ihre Mutter während des Kriegs befreundet gewesen war. Sie erzählte ihm auch, was Kitty Barker gesagt hatte, dass es Anfang 1941 zwischen Dorothy und Vivien ein schreckliches Zerwürfnis gegeben hatte.
»Du glaubst also, dass es zwischen dem Zerwürfnis und dem, was 1961 in Greenacres passiert ist, einen Zusammenhang gibt«, sagte Gerry.
»Genau.« Laurel musste daran denken, was Kitty ihr über den Abend erzählt hatte, als sie mit ihrer Mutter zusammen ausgegangen war, wie Dorothy sich aufgeführt hatte, was sie alles gesagt hatte. »Ich glaube, dass Ma über irgendetwas, was zwischen den beiden vorgefallen war, stinksauer und verletzt war, und dass sie irgendetwas getan hat, um ihre Freundin zu bestrafen. Ich glaube, ihr Plan – wie auch immer er ausgesehen hat – ist fehlgeschlagen, und zwar viel schlimmer, als sie es sich hätte träumen lassen, aber da war es zu spät, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Ma ist aus London geflüchtet, und Henry Jenkins war so von Hass erfüllt, dass er noch zwanzig Jahre später nach ihr gesucht hat.« Laurel wunderte sich selbst, wie es möglich war, eine so schreckliche Theorie so ruhig und emotions los darzustellen. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich frage mich sogar, ob Ma irgendetwas mit Viviens Tod zu tun hat.«
»Du meine Güte, Lol.«
»Ich frage mich, ob die Schuld, die sie ihr Leben lang mit sich herumtragen musste, sie zu der Frau gemacht hat, die wir kennen. Ob sie ihr Leben lang dafür Buße getan hat.«
»Indem sie uns eine gute Mutter war.«
»Ja.«
»Was prima funktioniert hat, bis Henry Jenkins kam, um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
»Ja.«
Gerry schwieg. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Er dachte nach.
»Und?«, fragte Laurel und lehnte sich vor. »Du bist der Wissenschaftler – was hältst du von meiner Theorie?«
»Sie ist plausibel«, sagte Gerry und nickte langsam. »Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass Reue einen Menschen dazu bringt, sein Leben zu ändern. Auch nicht, dass ein Mann selbst nach so langer Zeit noch seine Frau rächen will. Und wenn sie tatsächlich etwas mit dem Tod dieser Vivien zu tun hatte, dann kann ich mir ebenfalls vorstellen, dass sie ihre einzige Chance dar in gesehen hat, Henry Jenkins ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen.«
Laurel verließ der Mut. Insgeheim hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, wie ihr jetzt bewusst wurde, dass Gerry laut lachen würde, dass er ihre Theorie mit seinem scharfen Verstand zerpflücken und ihr sagen würde, sie solle mal ordentlich ausschlafen und eine Weile keinen Shakespeare lesen.
Aber das tat er nicht. Der Logiker in ihm hatte die Zügel in die Hand genommen. Er sagte: »Was kann sie Vivien bloß angetan haben, was sie später so bereut hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber was auch immer es war, ich glaube, du hast recht«, fuhr er fort, »die Sache muss schlimmer
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