Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ausgegangen sein, als sie es sich vorgestellt hatte. Ma hätte ihre Freundin niemals mit Absicht verletzt.«
Laurel hob die Schultern. Sie dachte daran, wie ihre Mutter Henry Jenkins das Messer, ohne eine Sekunde zu zögern, in die Brust gestoßen hatte.
»Das hätte sie nicht, Lol.«
»Nein, ich hätte es auch nicht für möglich gehalten – zumindest anfangs nicht. Aber hast du dir schon mal überlegt, dass wir sie bloß deswegen in Schutz nehmen, weil sie unsere Mutter ist und weil wir sie kennen und lieben?«
»Wahrscheinlich ist das so«, sagte Gerry. »Aber das ist in Ordnung. Wir kennen sie wirklich.«
»Wir glauben, sie zu kennen.« Etwas, das Kitty Barker gesagt hatte, ging Laurel nicht aus dem Kopf, etwas über den Krieg und wie er die Gefühle der Menschen ins Extreme trieb – die drohende Invasion, die Angst und die Dunkelheit, die schlaflosen Nächte. »Was, wenn sie damals ein anderer Mensch war? Was, wenn der Krieg sie zerbrochen hat? Was, wenn sie sich verändert hat, nachdem sie Daddy geheiratet und uns in die Welt gesetzt hatte?« Nachdem sie ihre zweite Chance bekommen hatte.
»Niemand verändert sich dermaßen.«
Aus dem Nichts kam Laurel die Geschichte mit dem Krokodil in den Sinn. Hast du dich darum in eine Frau verwandelt, Mummy? , hatte sie als Kind gefragt, und Dorothy hatte geantwortet, sie hätte aufgehört, ein Krokodil zu sein, als sie zum ersten Mal Mutter geworden war. War die Annahme zu weit hergeholt, dass die Geschichte eine Allegorie gewesen war, dass ihre Mutter damit auf eine andere Art Verwandlung angespielt hatte? Oder las Laurel viel zu viel in eine Geschichte hinein, die nur dazu gedacht gewesen war, einem Kind zu gefallen? Sie sah Dorothy vor ihrem geistigen Auge, wie sie sich wieder dem Spie gel zugewandt und die Spaghettiträger ihres schönen Kleids gerichtet hatte, als ihre achtjährige Tochter sie mit großen Augen fragte, wie denn so eine wundersame Verwandlung möglich war. Na ja , hatte ihre Mutter geantwortet, ich kann dir nicht alle meine Geheimnisse verraten, oder? Nicht alle auf einmal. Frag mich das ein andermal. Wenn du größer bist .
Und genau das würde Laurel tun. Plötzlich schwitzte sie, die anderen Gäste in der Pizzeria lachten und vergnügten sich, und der Pizzaofen stieß eine heiße Wolke aus. Laurel öffnete ihre Brieftasche, nahm zwei Zwanziger und einen Fünfer heraus, schob die Scheine unter die Rechnung und winkte ab, als Gerry seinen Anteil bezahlen wollte. »Ich hab dir doch gesagt, ich lade dich ein«, sagte sie. Sie fügte nicht hinzu, dass das das Mindeste war, was sie tun konnte, nachdem sie seine sternenhelle Welt mit ihrer Besessenheit verdunkelt hatte. »Komm«, sagte sie, während sie sich ihren Mantel anzog. »Gehen wir ein paar Schritte.«
Die Stimmen in den Restaurants wurden leiser, als sie das Gelände des King’s College überquerten und zur Themse hinuntergingen. Am Ufer war es still, Laurel hörte die Boote leise im mondbeschienenen Wasser schaukeln. In der Ferne begann eine Glocke zu schlagen, hell und monoton, und in irgendeinem Zimmer im College übte jemand auf seiner Geige. Die schöne, traurige Musik rührte Laurel, und plötzlich wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war herzukommen.
Gerry hatte nicht viel gesagt, seit sie das College verlassen hatten. Jetzt ging er schweigend neben ihr her, das Fahrrad schob er mit einer Hand. Er hielt den Kopf gesenkt, den Blick auf den Boden geheftet. Die Last der Vergangenheit war so groß gewesen, dass sie sich dazu hatte verleiten lassen, einen Teil des Gewichts auf ihn abzuwälzen. Sie hatte sich eingeredet, dass Gerry die Wahrheit kennen sollte. Aber damals war er fast noch ein Baby gewesen, und jetzt war er ein sanfter, liebenswürdiger Mann, der Liebling ihrer Mutter, unfähig, sich vorzustellen, dass sie etwas so Schreckliches getan haben könnte. Laurel wollte ihm all das sagen, sich bei ihm entschuldigen, als Gerry ihr zuvorkam. Er fragte: »Und wie machen wir jetzt weiter? Haben wir irgendwelche Spuren, denen wir folgen können?«
Laurel schaute ihn an.
Er war im gelben Lichtkegel einer Straßenlaterne stehen geblieben und schob seine Brille höher auf die Nase. »Wie? Du wolltest es doch nicht etwa dabei belassen, oder? Wir müssen rausfinden, was passiert ist, Lol. Es ist Teil unserer Geschichte.«
Laurel hatte das Gefühl, ihn noch nie so sehr geliebt zu haben wie in diesem Moment. »Ja, es gibt da ein paar Spuren«, sagte sie atemlos. »Jetzt wo du mich
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