Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
Vom Netzwerk:
war. »Ich glaube, als sie reingekommen ist und uns da in dem Zimmer vorgefunden hat, Mr. Jenkins und mich …« Dolly wandte den Blick ab, ein bisschen verlegen bei der Erinnerung, wie Henry Jenkins sie angesehen hatte. »Na ja, ich hatte mich an dem Tag ganz besonders fein gemacht, wissen Sie, und ich nehme an, dass das einfach zu viel war für Vivien.« Er hatte erst genickt, dann hatte er sich nachdenklich das Kinn massiert. »Und wie hast du dich gefühlt, Dorothy, als sie dich so behandelt hat?« Dolly wäre bei der Frage beinahe in Tränen ausgebrochen. Stattdessen hatte sie tapfer gelächelt und die Fingernägel in ihre Handflächen gebohrt, stolz auf ihre Selbstbeherrschung. »Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, Dr. Rufus, und es hat mich sehr, sehr verletzt. So schäbig bin ich noch nie von einer Freundin behandelt …«
    »Halt! Aufhören!«
    Dolly zuckte zusammen, als Lady Gwendolyn in dem sonnendurchfluteten Zimmer ihren kleinen Fuß wegzog und zeterte: »Wenn Sie nicht aufpassen, schneiden Sie mir noch den Zeh ab!«
    Bestürzt betrachtete Dolly das pinkfarbene Dreieck an Lady Gwendolyns kleinem Zeh. Die Gedanken an Vivien hatten sie abgelenkt. Dolly hatte den Zehennagel viel heftiger als nötig mit der Feile bearbeitet. »Es tut mir leid, Lady Gwendolyn«, sagte sie. »Ich werde vorsichtiger sein …«
    »Mir reicht’s für heute. Holen Sie mir meine Süßigkeiten, Dorothy. Ich habe sehr schlecht geschlafen. Man bekommt ja nichts Vernünftiges mehr zu essen, jetzt wo alles rationiert ist. Kalbshaxe mit gekochtem Rotkohl zum Abendessen! Kein Wunder, dass ich mich die ganze Nacht hin und her geworfen und schlecht geträumt habe.«
    Dolly tat, wie ihr geheißen, hielt Lady Gwendolyn die Tüte hin und wartete, bis sie sich ein in Zellophan gewickeltes Pfefferminzbonbon ausgesucht hatte.
    Dollys Scham hatte sich schnell in Empörung und schließlich in Wut verwandelt. Es hatte nur noch gefehlt, dass Vivien und Henry Jenkins sie des Diebstahls bezichtigt hätten, obwohl sie nichts weiter gewollt hatte, als Vivien ihre kostbare Halskette zurückzugeben. Es war einfach nicht zu fassen, dass Vivien – die sich hinter dem Rücken ihres Mannes mit ihrem Geliebten traf, die allen, die ihr nahestanden, Lügen auftischte –, dass Vivien es war, die Dolly mit kalter Verachtung begegnete! Ausgerechnet Dolly, die sie immer wieder in Schutz nahm, wenn andere schlecht über sie redeten.
    Nun gut – Dolly seufzte resigniert, während sie die Nagelfeile im Etui verstaute und die Frisierkommode aufräumte –, damit war es jetzt vorbei. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Sie hatte nicht mit Lady Gwendolyn darüber gesprochen, noch nicht, aber wenn die alte Dame erst einmal erfuhr, was vorgefallen war – dass ihre junge Gefährtin, so wie sie damals, schändlich verraten worden war –, würde sie ihr bestimmt ihren Segen geben, da war sich Dolly ganz sicher. Wenn der Krieg vorbei war, würden sie eine große Party geben, ein prächtiges Fest, einen Maskenball mit Kostümen und Lampions und Feuerschluckern. Die ganze vornehme Gesellschaft würde kommen, The Lady würde Fotos machen, und noch Jahre später würden die Leute davon schwärmen. Dolly sah es alles genau vor sich, wie die Gäste in ihren eleganten Kleidern in der Campden Grove eintrafen und an der Nr. 25 vorbeigingen, wo Vivien, die nicht eingeladen war, sie vom Fenster aus beobachtete.
    In der Zwischenzeit ging Dolly den beiden nach Möglichkeit aus dem Weg. Allmählich begriff sie, dass es Leute gab, die man besser nicht kannte. Henry Jenkins zu meiden war nicht schwer – selbst in der Zeit vor dem Bruch hatte Dolly ihn kaum gesehen –, und um Vivien nicht zu sehen, meldete sie sich einfach beim Freiwilligendienst ab. Was für eine Erleichterung: Mit einem Schlag hatte sie sich aus Mrs. Waddinghams Knechtschaft befreit und Zeit gewonnen, um Lady Gwendolyn bei Laune zu halten. Und das war, wie sich herausstellen sollte, gut so. Erst neulich, an einem Morgen, an dem sie normalerweise in der Kantine gearbeitet hätte, war sie gerade dabei, Lady Gwendolyn die verkrampften Beine zu massieren, als es an der Haustür klingelte. Die alte Dame hatte auf das Fenster gezeigt und Dolly gebeten, einen Blick nach unten zu werfen, um zu sehen, wer sie zu so früher Stunde belästigte.
    Zuerst hatte Dolly gefürchtet, es könnte Jimmy sein – er war schon mehrmals vorbeigekommen, zum Glück tagsüber, wenn niemand im Haus war, der ihr hätte eine Szene

Weitere Kostenlose Bücher