Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
erleichtert und schob sich das Haar aus der Stirn. »Schon gut«, sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich konnte mich plötzlich nicht mehr erinnern, was ich mit dem Schlüssel gemacht hab. Sie war richtig schwierig, verstehst du: Sie war völlig außer sich, als sie sah, dass ich das Buch gefunden hatte. Ich glaube, sie hat sich gefreut – ich meine, was sonst, schließlich hatte sie mich gebeten, es ihr zu bringen –, aber gleichzeitig war sie auf einmal ganz schroff, richtig gereizt. Du weißt ja, wie sie manchmal sein kann.«
»Aber jetzt ist es dir wieder eingefallen?«
»Ja, sicher – er liegt zu Hause ganz hinten in der Schublade ihres Nachttischs.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte arglos. »Manchmal weiß ich einfach nicht, wo mir der Kopf steht.«
Laurel erwiderte ihr Lächeln. Die arme, ahnungslose Rose.
»Entschuldige, Lol – du wolltest doch eben irgendwas wissen … wegen der Truhe?«
»Nein, nein, war nicht wichtig. Ich wollte nur ein bisschen plaudern.«
Rose warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und verkündete, sie müsse sich jetzt auf den Weg machen, um ihre Enkelin aus dem Kindergarten abzuholen. »Ich komme heute Abend noch mal vorbei, und ich glaube, Iris kommt morgen früh. Wenn wir alle mithelfen, müssten wir es leicht schaffen für den Umzug am Samstag … Also, wenn ich ehrlich bin, finde ich es fast ein wenig aufregend.« Sie lächelte verschmitzt. Doch dann verdüsterte sich ihre Miene wieder. »Gott, solche Gefühle sind wohl unter den Umständen ziemlich daneben.«
»Ich glaube nicht, dass es für solche Dinge Regeln gibt, Rose.«
»Nein, vielleicht hast du recht.« Rose gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange, dann verschwand sie durch die Tür, und zurück blieb nur ihr Lavendelduft.
Es war anders gewesen mit Rose im Zimmer, einem zweiten aktiven, atmenden Wesen. Jetzt wurde Laurel noch viel stärker bewusst, wie blass und still ihre Mutter geworden war. Laurels Handy kündigte eine eingehende SMS an, und sie sprang auf, um es aus ihrer Handtasche zu nehmen, dankbar für die Verbindung zur Außenwelt. Es war eine Nachricht von der British Library, die sie informierte, dass das Buch, das sie bestellt hatte, am nächsten Morgen zur Verfügung stehen würde, und die sie daran erinnerte, ihren Personalausweis mitzubringen, um sich einen Leseausweis ausstellen zu lassen. Laurel las die Nachricht zweimal, dann verstaute sie das Handy widerstrebend in ihrer Handtasche. Die SMS war eine willkommene Ablenkung gewesen, jetzt war Laurel wieder zurück in der lähmenden Stille des Krankenzimmers.
Sie hielt es nicht länger aus. Der Arzt hatte gesagt, ihre Mutter würde wegen der schmerzstillenden Medikamente höchstwahrscheinlich den ganzen Nachmittag schlafen, aber Laurel nahm sich das Fotoalbum trotzdem vor. Sie setzte sich neben das Bett und begann ganz am Anfang, bei dem Bild von Dorothy als junger Frau, kurz nachdem sie bei Grandma Nicolson in der Pension an der Küste angefangen hatte. Laurel arbeitete sich durch die Jahre vor, erzählte sich die Geschichte ihrer Familie, fand es beruhigend, ihre eigene Stimme zu hören, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie, indem sie in normalem Ton immer weiterredete, das Leben im Zimmer aufrechterhielt.
Schließlich kam sie zu dem Foto von Gerry an seinem zweiten Geburtstag. Es war am frühen Morgen aufgenommen worden, als sie dabei waren, in der Küche ihre Picknicksachen zusammenzupacken, kurz bevor sie sich auf den Weg zum Bach gemacht hatten. Die fünfzehnjährige Laurel – Gott, der Pony! – hatte sich Gerry auf die Hüfte gesetzt, und Rose kitzelte ihm den Bauch, bis er vor Vergnügen schrie. Iris’ ausgestreckter Zeigefinger war irgendwie ins Bild geraten (zweifellos hatte sie sich über irgendetwas aufgeregt), und im Hintergrund war Ma zu sehen, die Hand an der Stirn, während sie in den Korb mit der Schmutzwäsche schaute. Auf dem Tisch – Laurel blieb beinahe das Herz stehen, es fiel ihr zum ersten Mal auf – lag das Messer. Direkt neben der Vase mit den Dahlien. Vergiss es nicht, Ma , dachte Laurel. Pack das Messer für den Kuchen ein, dann brauchst du nicht zum Haus zurückzugehen. Dann wird nichts passieren. Ich klettere aus dem Baum und gehe zu euch an den Bach, bevor der Mann kommt, und niemand wird je erfahren, dass er da war .
Aber das war kindliche Logik. Wer konnte schon sagen, ob Henry Jenkins nicht später wiedergekommen wäre, wenn er das Haus leer vorgefunden hätte? Und
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