Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gegenüber als Betrügerin hingestellt, und was noch viel gemeiner war, sie hat Lady Gwendolyn erzählt, ich wäre eine Diebin und nicht vertrauens würdig.«
»Aber das ist doch, das ist …« Jimmy war fassungslos. »Das ist abscheulich.«
»Das Schlimmste ist, dass sie selbst eine Lügnerin ist. Sie hat schon seit Monaten eine Affäre. Erinnerst du dich noch, wie sie dir in der Kantine von diesem Arzt erzählt hat, mit dem sie befreundet ist?«
»Der mit der Kinderklinik?«
»Das ist alles nur Fassade – das heißt, die Kinderklinik gibt es natürlich, den Arzt auch, aber er ist ihr Liebhaber. Sie benutzt das Krankenhaus als Tarnung, damit niemand etwas dabei findet, wenn sie dort hingeht.«
Ihm fiel auf, dass sie zitterte, und wen wunderte es? Welche Frau würde nicht verzweifeln, wenn sie feststellen musste, dass ihre Freundin sie auf derart perfide Weise verraten hatte? »Das tut mir leid, Dolly.«
»Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben«, sagte sie. Sie bemühte sich so sehr, tapfer zu sein, dass es ihm fast das Herz brach. »Es war eine schreckliche Erfahrung, aber ich habe mir geschworen, dass ich mich davon nicht unterkriegen lasse.«
»Gut so.«
»Es ist nur …«
Die Kellnerin kam, um den Tisch abzuräumen, und sah Jimmy von der Seite an, während sie sein Messer aufnahm. Wahrscheinlich glaubte sie, dass sie sich stritten, dachte er. So wie sie verstummt waren, als sie an den Tisch gekommen war, wie Dolly sich hastig abgewandt hatte, während Jimmy ihr Geplapper (»Die Uhr am Big Ben geht immer noch richtig, wissen Sie«) mit einem verlegenen Grinsen quittierte. Jetzt beäugte sie Dolly, die ihr Gesicht immer noch abgewandt hielt. Aber Jimmy hatte Dollys Profil im Blick und sah, dass ihre Unterlippe zitterte. »Das wär’s dann«, sagte er, um die Kellnerin loszuwerden. »Das wär’s, danke.«
»Kein Nachtisch? Sehr empfehlenswert ist unser …«
»Nein, nein, wir möchten nichts mehr.«
Sie rümpfte die Nase. »Wie Sie wünschen.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt.
»Doll?«, sagte Jimmy, als sie wieder allein waren. »Du wolltest etwas sagen?«
Sie drückte sich die Finger ans Kinn, um nicht zu weinen. »Es ist einfach so, dass ich Lady Gwendolyn wirklich gernhatte, Jimmy. Ich habe sie geliebt wie eine Mutter. Und die Vorstellung, dass sie gestorben ist, in der Annahme, ich sei eine Lügnerin und Diebin …« Sie brach ab, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Schsch. Nicht weinen.« Er setzte sich neben sie und küsste ihre Tränen fort. »Lady Gwendolyn hat gewusst, was du für sie empfunden hast. Das hast du ihr jeden Tag aufs Neue gezeigt. Und weißt du was?«
»Hm?«
»Du hast recht. Du wirst dich von Vivien nicht kleinkriegen lassen. Dafür werde ich sorgen.«
»Ach, Jimmy.« Sie spielte an einem losen Knopf an seinem Hemd, drehte ihn hin und her. »Das ist wirklich lieb von dir. Aber wie willst du das machen? Wie soll ich denn gegen eine wie sie ankommen?«
»Indem du ein langes, glückliches Leben führst.«
Dolly blinzelte.
»Mit mir.« Er lächelte und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir werden es ihr zeigen, indem wir heiraten. Wir werden sparen und an die Küste ziehen oder aufs Land, ganz wie du willst, so wie du es dir immer gewünscht hast; wir werden es ihr zeigen, indem wir bis an unser Lebensende glücklich sein werden.« Er küsste sie auf die Nase. »Hm?«
Ein Augenblick verging, dann nickte sie langsam, wenn auch zweifelnd, wie es Jimmy schien.
»Einverstanden, Dolly?«
Diesmal lächelte sie. Aber es war ein flüchtiges Lächeln, das so schnell verschwand, wie es gekommen war. Sie seufzte tief. »Ich will nicht undankbar sein, Jimmy. Ich wünschte, wir müssten nicht so lange warten, könnten jetzt gleich von hier fortgehen und ganz von vorn anfangen. Manchmal denke ich, nur so kann ich darüber hinwegkommen.«
»Es wird nicht lange dauern, Doll. Ich arbeite ununterbrochen, mache jeden Tag Fotos, und mein Redakteur ist davon überzeugt, dass ich eine große Zukunft vor mir habe. Wenn ich …«
Dolly machte große Augen und umfasste sein Handgelenk. »Fotos!«, sagte sie plötzlich ganz aufgeregt. »Das bringt mich auf eine Idee, Jimmy, eine Möglichkeit, wie wir alles sofort bekommen können – ein Haus an der Küste und alles, wovon du eben gesprochen hast –, und wie wir Vivien gleichzeitig eine Lektion erteilen können.« Ihre Augen leuchteten. »Das willst du doch auch, oder? Mit mir zusammen von hier fortgehen und ein
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