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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Millionen von Jahren entstanden, als die Erde sich seufzend gehoben und gesenkt und große Felsbrocken zu zackigen Formationen zusammengeschoben hatte, sodass der Bach an der Stelle am Rand ganz seicht und in der Mitte ganz tief war. Und dort hatte Vivien ihre Entdeckung gemacht.
    Sie war mit den Einmachgläsern, die sie aus der Küche stibitzt hatte und jetzt in einem hohlen Baumstamm hinter einem dichten Farnstrauch aufbewahrte, auf der Jagd gewesen. Im Bach gab es immer irgendetwas zu fangen: Kaulquappen und manchmal Aale und verrostete Eimer aus der Zeit des Goldrauschs. Einmal hatte sie sogar ein Gebiss im Wasser gefunden.
    An dem Tag, an dem sie die Lichter entdeckt hatte, hatte sie bäuchlings auf einem Felsbrocken gelegen, die Arme tief im Wasser, und versucht, eine besonders große Kaulquappe zu erwischen. Immer wieder hatte sie vergebens versucht, sie zu schnappen, dann hatte sie die Arme so tief ins Wasser getaucht, dass ihr Gesicht beinahe die Oberfläche berührt hatte. Und da hatte sie sie gesehen, gleich mehrere, orangefarben und glitzernd hatten sie ihr vom Grund des Bachbetts zugeblinzelt. Zuerst hatte sie gedacht, es sei die Sonne, die sich im Wasser spiegelte, und hatte mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel geschaut, um nachzusehen. Aber die Sonne konnte es nicht sein. Sicher, der Himmel spiegelte sich in der Wasseroberfläche, aber das war etwas anderes. Diese Lichter befanden sich tief, tief unten, noch tiefer als die glitschigen Wasserpflanzen, die das Bachbett bedeckten. Es war etwas anderes. Die Lichter befanden sich irgendwo anders.
    Vivien hatte lange darüber nachgedacht. Sie mochte es nicht, in Büchern nachzusehen – das war Roberts Stärke, und Mums –, sie fragte lieber. Zuerst hatte sie den alten Mac ausgequetscht, dann Dad, und schließlich war sie Black Jackie über den Weg gelaufen, Dads Kumpel, der besser als alle anderen über das Buschland Bescheid wusste. Er hatte seine Arbeit unterbrochen und sich ächzend gestreckt. »So, so, du hast also die kleinen Lichter im Bach gesehen, wie?«
    Sie hatte genickt, und er hatte sie durchdringend angesehen. Schließlich hatte er gegrinst. »Und, bist du bis auf den Grund getaucht?«
    »Nein.« Sie hatte mit einer schnellen Bewegung eine Fliege von ihrer Nase verscheucht. »Zu tief.«
    »Ich auch nicht.« Er hatte sich unter seinem breitkrempigen Hut gekratzt, dann hatte er Anstalten gemacht, weiterzugraben. Aber bevor er seinen Spaten in die Erde getrieben hatte, hatte er sich noch einmal umgedreht. »Wieso bist du dir so sicher, dass eins da ist, wenn du es nicht selbst gesehen hast?«
    Und da hatte Vivien begriffen: In ihrem Bach gab es ein Loch, das bis auf die andere Seite der Welt reichte. Das war die einzige Erklärung. Sie hatte einmal gehört, dass Dad ein Loch bis nach China graben wollte, und jetzt hatte sie es gefunden. Einen geheimen Tunnel, einen Weg, der bis ins Innere der Erdkugel reichte – zu dem Ort, von dem alle Magie und alles Leben und die Zeit stammten –, und weiter bis zu den Sternen am Himmel. Die Frage war nur: Was sollte sie jetzt tun?
    Sie musste es erkunden.
    Vivien blieb auf der großen Felsplatte stehen, die die Brücke zwischen dem Busch und dem Bach bildete. Das Wasser war still heute, die seichten Stellen in der Nähe des Ufers sahen träge und trüb aus. Ein schmieriger Film von weiter bachaufwärts lag auf der Oberfläche wie eine fettige Haut. Die Sonne stand hoch am Himmel, und der Boden war aufgeheizt. Die Stämme der hohen Eukalyptusbäume ächzten in der Hitze.
    Vivien verstaute ihr Lunchpaket unter dem dichten Farn am Rand der Felsplatte. Irgendetwas Kleines flitzte raschelnd durch das kühle Gestrüpp.
    Im ersten Moment fühlte das Wasser sich kalt an ihren Fußknöcheln an. Sie watete durch das seichte Wasser am Ufer, suchte mit den Füßen Halt auf den glitschigen Steinen, die an manchen Stellen gefährlich spitz waren. Als Erstes würde sie nach den Lichtern suchen, sich vergewissern, dass sie noch da waren, und dann würde sie so tief tauchen, wie sie konnte, um sich die Stelle genauer anzusehen. Schon seit Wochen übte sie, die Luft anzuhalten, und sie hatte eine von Mums hölzernen Wäscheklammern mitgebracht für ihre Nase, denn Robert hatte gesagt, wenn sie verhindern könne, dass die Luft durch ihre Nase entwich, würde sie länger durchhalten.
    Als sie die Stelle erreichte, wo der Grund steil abfiel, schaute sie ins dunkle Wasser. Es dauerte ein paar Sekunden, sie musste sich

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