Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
die sich entfernenden Schritte lauschte. Nachdem Vivien um die Ecke gebogen war, folgte er ihr und beobachtete sie mit klopfendem Herzen. Sie ging zu einer kleinen Tür, die Jimmy noch nie aufgefallen war, und öffnete sie. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass dahinter eine schmale Treppe weiter nach oben führte. Schnell und leise stieg er die Stufen hoch, bis ihm ein Lichtstreifen unter einer Tür verriet, wohin Vivien gegangen war. Er ging weiter hinter ihr her. Hier oben war die Decke niedriger als in den unteren Stockwerken des alten Hauses, und wie ein Krankenhaus sah es hier auch nicht aus. Er hörte Viviens Schritte, konnte jedoch nicht ausmachen, in welche Richtung sie unterwegs war, bis er aus dem Augenwinkel einen Schatten über die verschossene blau und golden gemusterte Tapete huschen sah. Er lächelte. Der Junge in ihm genoss die Jagd und verfolgte seine Beute.
Jimmy glaubte zu wissen, wohin sie unterwegs war: zu einem Stelldichein mit Dr. Tomalin, hoch oben in den Privatgemächern des alten Hauses, wo niemand die beiden suchen würde. Außer Jimmy. Er lugte um die Ecke und sah, wie Vivien stehen blieb. Diesmal hatte er seine Kamera dabei. Wenn er jetzt ein Foto schoss, ersparte er sich diesen ganzen Zirkus mit einem fingierten Rendezvous. Hinzu kam, dass er sich wesentlich besser fühlen würde, wenn er Vivien in flagranti mit ihrem Liebhaber erwischte. Dann musste natürlich noch der Brief geschrieben werden. (Das war Erpressung, Punkt aus. Wollen wir das Kind doch beim Namen nennen, dachte er.) Die Vorstellung behagte Jimmy immer noch nicht, aber er unterdrückte seine Gewissensbisse.
Sie öffnete die Tür. Als sie das Zimmer betrat, schlich er näher und nahm die Kappe von der Linse. Gerade rechtzeitig gelang es ihm, einen Fuß in die Tür zu schieben, ehe sie sich schloss. Dann hob er die Kamera, um das Foto zu schießen.
Aber was er durch den Sucher erblickte, veranlasste ihn, die Kamera wieder sinken zu lassen.
24
Greenacres, 2011
D ie Nicolson-Schwestern (bis auf Daphne, die in Los Angeles war, um einen Werbespot für ihre Sendung aufzunehmen, aber versprochen hatte, den ersten Flug zurück zu nehmen, »sobald ich hier nicht mehr gebraucht werde«) brachten Dorothy am Samstagmorgen nach Hause. Rose machte sich Sorgen, weil sie Gerry nicht erreicht hatte, aber Iris – die gern das Kommando übernahm – erklärte, sie habe bereits im College angerufen, und man habe ihr mitgeteilt, er sei in einer »sehr wichtigen Angelegenheit« unterwegs; man habe ihr versprochen, ihn zu benachrichtigen. Laurel hatte unwillkürlich nach ihrem Handy gegriffen, während Iris die Neuigkeiten verkündete. Sie fragte sich, warum sie immer noch nichts über Dr. Rufus gehört hatte, widerstand jedoch dem Impuls, Gerry anzurufen. Ihr Bruder arbeitete auf seine Weise und in seinem eigenen Tempo, und sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, ihn auf seiner Dienstnummer anzurufen.
Bis zum Mittag war Dorothy in ihrem Zimmer untergebracht und schlief tief und fest. Die Schwestern sahen einander an und kamen stillschweigend überein, ihre Mutter schlafen zu lassen. Der Himmel war aufgeklart, und es war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Sie gingen nach draußen, setzten sich auf die Hollywoodschaukel unter dem Baum, aßen die Brötchen, die Iris gebacken hatte, verscheuchten die Fliegen und genossen den wahrscheinlich letzten schönen Tag des Jahres.
Das Wochenende verlief ruhig. Sie saßen um Dorothys Bett, lasen still oder unterhielten sich leise, unternahmen sogar einen Anlauf, Scrabble zu spielen (was allerdings nicht lange währte – Iris hielt nie eine ganze Partie durch), aber die meiste Zeit leisteten sie abwechselnd ihrer schlafenden Mutter Gesellschaft. Es war richtig gewesen, ihre Mutter nach Hause zu holen, dachte Laurel. Dorothy gehörte nach Greenacres, in dieses seltsame Haus mit dem großen Herzen, von dem sie, nachdem sie es zufällig entdeckt hatte, sofort gewusst hatte, dass sie es besitzen und darin leben musste. »Ich hatte immer von einem solchen Haus geträumt«, hatte sie oft mit einem strahlenden Lächeln gesagt. »Eine Zeit lang dachte ich, ich hätte kein Glück, aber am Ende wurde alles gut. Als ich das Haus gesehen habe, wusste ich sofort, dass es das richtige war …«
Laurel fragte sich, ob ihre Mutter an jenen lange zurückliegenden Tag gedacht hatte, während sie am Samstag in die Einfahrt hochfuhren; ob sie vor ihrem geistigen Auge den alten Bauern gesehen
Weitere Kostenlose Bücher