Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sie wohnen, das Vermögen … Viviens Großmutter hat es ihr hinterlassen mit der Auflage, dass es in ihrer Hand bleibt, auch wenn sie heiratet. Du hättest mal hören sollen, wie Lady Gwendolyn sich zu dem Thema ausgelassen hat – sie hat sich halb totgelacht.«
Er hatte nichts dazu gesagt, und Dolly musste seinen Widerwillen gespürt haben, denn auf einmal war sie in Panik geraten. Ihre Augen hatten sich flehend geweitet, und sie hatte die Hände wie zum Gebet verschränkt. »Verstehst du denn nicht? Sie wird gar nicht bemerken, dass ihr etwas fehlt, aber für uns bedeutet es, dass wir als Mann und Frau zusammenleben können. Bis an unser Lebensende, Jimmy.«
Er hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte, also hatte er den Mund gehalten und mit einem Streichholz gespielt, während sich die Spannung zwischen ihnen ins Unerträgliche steigerte. Seine Gedanken waren abgedriftet. Er hatte an seinen Vater gedacht. An das Zimmer, das sie sich übergangsweise teilten, daran, wie sein Vater am Fenster saß, die Straße beobachtete und sich laut fragte, woher Jimmys Mutter wissen sollte, wo sie zu finden waren, und ob das vielleicht der Grund dafür war, dass sie immer noch nicht zurückgekommen war. Wie er Jimmy jeden Abend fragte, ob sie nicht wieder in ihre alte Wohnung zurückkönnten. Manchmal weinte er, und es brach Jimmy das Herz zu hören, wie der alte Mann in sein Kopfkissen schluchzte und vor sich hinmurmelte, er wünschte, alles könnte wieder so sein wie früher. Jimmy hoffte, dass er, wenn er einmal Kinder hatte, genau die richtigen Worte finden würde, um sie zu trösten, wenn sie so weinen mussten, als würde die Welt zusammenbrechen, aber es war irgendwie viel schwerer, wenn der Vater weinte. So viele Menschen weinten in diesen schlimmen Zeiten in ihre Kopfkissen. Jimmy musste an all die armen Menschen denken, die er fotografiert hatte, seit der Krieg ausgebrochen war, die Ausgebombten und die Trauernden, die Hoffnungslosen und die Tapferen, und dann hatte er Dolly angeschaut, die sich gerade eine neue Zigarette anzündete und sie hastig rauchte, die Dolly, die so anders war als das junge Mädchen am Strand mit den lachenden Augen, und er hatte sich gesagt, dass sein Vater bestimmt nicht der Einzige war, der sich wünschte, alles könnte wieder so sein wie früher.
Das Streichholz zerbrach zwischen seinen Fingern. Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen, das war reines Wunschdenken, aber man konnte dem Jetzt auf andere Weise entkommen, und zwar indem man vorwärtsging. Er dachte daran, wie er sich in den Wochen gefühlt hatte, nachdem Dolly ihm gesagt hatte, sie könne ihn nicht heiraten, an die Leere, die sich vor ihm aufgetan hatte, an die Einsamkeit, die ihn nachts wach gehalten hatte, während er dem Schluchzen seines Vaters und sei nem eigenen verdammten Herzschlag gelauscht hatte, und schließ lich fragte er sich, ob das, was Dolly ihm vorschlug, wirklich so schrecklich war.
Normalerweise hätte Jimmy auf seine eigene Frage geantwortet: Ja, es war schrecklich. Er hatte einmal sehr klare Vorstellun gen gehabt von Recht und Unrecht, aber jetzt wo Krieg herrschte, wo überall um ihn herum alles in Trümmer fiel, jetzt – Jimmy schüttelte den Kopf – war eben alles anders. Es gab Zeiten, da war es gefährlich, an seinen Prinzipien festzuhalten.
Er legte die Streichholzstücke sorgfältig so zusammen, dass sie wieder ein Ganzes ergaben, und während er das tat, hörte er Dolly neben sich seufzen. Als er sich zu ihr umdrehte, ließ sie sich in ihren Stuhl zurücksinken und verbarg das Gesicht in ihren kleinen Händen. Erneut fielen ihm die Schrammen an ihren Armen auf, und wie dünn sie geworden war. »Es tut mir leid, Jimmy«, sagte sie durch ihre Finger hindurch. »Es tut mir so leid. Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Es war nur eine Idee. Ich … ich wollte nur …« Ihre Stimme war immer leiser geworden, als könnte sie es nicht ertragen, die schreckliche Wahrheit auszusprechen. »Sie hat mir das Gefühl gegeben, als wäre ich ein Nichts , Jimmy.«
Dolly schlüpfte gern in Rollen, aber Jimmy kannte sie gut, und die große Aufrichtigkeit, die in dem Moment aus ihr sprach, traf ihn bis ins Mark. Vivien Jenkins hatte seine schöne Dolly – die so klug und lebenslustig war, deren Lachen ihm das Gefühl gab, zu leben, wirklich zu leben –, diese Vivien hatte sie dazu gebracht, sich wie ein Nichts zu fühlen. Mehr brauchte Jimmy nicht zu hören.
»Beeilen Sie sich.« Vivien Jenkins war
Weitere Kostenlose Bücher