Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
London hatte durchschlagen müssen.
Die Reue, die ihre Mutter jetzt zeigte, ihr Gerede von Fehlern und zweiten Chancen und Vergebung, das alles passte zu der Theorie. Und was hatte sie früher immer zu Iris gesagt – niemand mag ein Mädchen, das immer mehr haben will als die anderen? War das die Lehre, die sie aus ihren eigenen Erfahrungen gezogen hatte? Je mehr Laurel darüber nachdachte, desto unausweichlicher schien ihr ihre Schlussfolgerung. Ihre Mutter hatte Geld gebraucht, Geld, das sie versucht hatte, von Vivien Jenkins zu bekommen, aber es war alles schrecklich schiefgelaufen. Laurel fragte sich, ob wohl auch Jimmy in die Sache verwickelt gewesen war, ob die Beziehung womöglich in die Brüche gegangen war, weil der Plan fehlgeschlagen war. Und sie fragte sich, welche Rolle er bei Viviens Tod gespielt hatte. Henry hatte Dorothy für den Tod seiner Frau verantwortlich gemacht. Dorothy mochte geflohen sein, sie mochte sich vorgenommen haben, ihr Leben lang Buße zu tun, aber Viviens trauernder Ehemann hatte sich geweigert, die Suche aufzugeben, und irgendwann hatte er sie gefunden. Was dann passiert war, hatte Laurel mit eigenen Augen gesehen.
Ben stand hinter ihr und räusperte sich, als der Zeiger auf ein Uhr sprang. Laurel tat so, als würde sie ihn nicht hören, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was an dem Plan ihrer Mutter fehlgeschlagen war. Hatte Vivien den Plan durchschaut und ihn durchkreuzt, oder war es etwas anderes gewesen, etwas viel Schlimmeres, das zur Katastrophe führte? Laurel überflog die Rücken der Tagebücher und suchte nach dem aus dem Jahr 1941.
»Ich würde Sie hier sitzen lassen, ehrlich«, sagte Ben. »Aber dann reißt meine Chefin mir den Kopf ab.« Er schluckte.
Verdammt. Verflixt und zugenäht. Jetzt musste sie eine geschlagene Stunde lang Däumchen drehen, während das Buch, das womöglich die Antworten enthielt, die sie brauchte, nutzlos in einem verschlossenen Raum lag.
25
London, April 1941
J immy stand mit dem Fuß in der Tür im Dachgeschoss des Krankenhauses und traute seinen Augen nicht. Das war nicht das heimliche außereheliche Stelldichein, das er erwartet hatte. Der große Raum vor ihm war voller Kinder. Sie hockten auf dem Boden und legten Puzzles, sprangen herum, eins machte einen Handstand. Das musste das ehemalige Kinderzimmer der alten Villa sein, dachte Jimmy, und diese Kinder waren vermutlich die Waisenkinder, die von Dr. Tomalin behandelt wur den. Sie alle blickten hoch, als Vivien in ihre Mitte trat, sprangen auf und liefen mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Auch sie strahlte, ließ sich auf die Knie sinken und versuchte, so viele wie möglich in die Arme zu nehmen.
Dann begannen sie alle gleichzeitig zu sprechen, schnell und aufgeregt; sie erzählten von fliegenden Schiffen und Piraten und Feen. Vivien schien zu wissen, wovon die Rede war, denn sie nickte nachdenklich, aber nicht auf diese gespielte Weise nachdenklich, die Erwachsene so oft Kindern gegenüber an den Tag legten – sie hörte aufmerksam zu und überlegte, und Jimmy sah ihr an, dass sie tatsächlich nach Lösungen suchte. Sie wirkte ganz anders, als er sie auf der Straße erlebt hatte, selbstsicherer, sanfter. Nachdem alle Kinder losgeworden waren, was ihnen auf dem Herzen lag, und sie, wie es manchmal geschieht, alle gleichzeitig verstummten, hob Vivien eine Hand und sagte: »Ich würde sagen, wir fangen einfach an und nehmen uns jedes Problem vor, wenn es auftaucht, was haltet ihr davon?«
Die Kinder waren einverstanden, so schien es Jimmy zumindest, denn sie machten sich ohne ein Wort des Protests daran, Stühle, Decken, Besenstiele und Puppen mit Augenklappen in die Mitte des Raums zu schaffen und sie dort zu einer offenbar sorgfältig geplanten Konstruktion zusammenzubauen. Nach einer Weile begriff er und musste lächeln. Vor seinen Augen entstand ein Schiff – der Bug, der Mast, eine Planke, die an einem Ende auf einem Schemel, am anderen auf einer Holzbank auflag. Schließlich wurde ein Segel gehisst, ein zu einem Dreieck gefaltetes Laken, das an allen drei Ecken von Schnüren in Form gehalten wurde.
Vivien hatte sich auf eine Obstkiste gesetzt und ein Buch aus ihrer Handtasche genommen. Sie schlug es auf, strich die Seiten glatt und sagte: »Fangen wir an mit Käpt’n Hook und den verlorenen Jungs. Wo ist Wendy?«
»Hier«, rief ein etwa elfjähriges Mädchen, das einen Arm in einer Schlinge trug.
»Gut«, sagte Vivien.
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