Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihrer Mutter klang, wenn sie ihnen Geschichten vorgelesen hatte und ihre Stimme ganz fremd geklungen hatte.
»Spreche ich mit Mrs. Vivien Jenkins?«
»Ja?«
»Mrs. Jenkins, ich würde Sie gern in einer delikaten Angelegenheit sprechen. Es betrifft eine junge Frau, der sie, so glaube ich, ein oder zweimal begegnet sind. Sie hat eine Zeit lang bei Ihnen gegenüber gewohnt, als sie als Gesellschafterin für Lady Gwendolyn arbeitete.«
»Meinen Sie Dolly Smitham?«
»Ja. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist etwas, worüber ich normalerweise nicht sprechen würde – ein Gebot der ärztlichen Schweigepflicht –, aber in diesem Fall bin ich der Meinung, dass schwerwiegende Gründe mich von dieser Pflicht entbinden. Sie sollten sich vielleicht hinsetzen, Mrs. Jenkins.«
Vivien saß bereits in ihrem Sessel, was sie ihm zu verstehen gab, dann ließ sie sich von einem Arzt, dem sie noch nie begegnet war, eine Geschichte erzählen, die sie kaum glauben konnte.
Sie hörte ihm geduldig zu, und nachdem Dr. Rufus aufgelegt hatte, saß Vivien noch lange mit dem Telefonhörer in der Hand da und versuchte sich einen Reim auf das Gehörte zu machen. Er hatte von Dolly gesprochen (»Eine anständige junge Frau, nur manchmal ihrer blühenden Fantasie zu sehr ausgeliefert«) und ihrem Verlobten (»Jimmy, glaube ich – bin ihm selbst noch nie begegnet«). Er hatte ihr erzählt, die beiden träumten von einem gemeinsamen Leben und von einer größeren Menge Geld, das sie für ihren Lebenstraum benötigten. Dann hatte er ihr den Plan erläutert, den sie sich ausgedacht hatten, die Rolle, die sie, Vivien, darin spielen sollte, und als Vivien ihn gefragt hatte, warum die Wahl ausgerechnet auf sie gefallen sei, hatte er ihr erklärt, wie verzweifelt Dolly darüber war, von jemandem, den sie so sehr bewunderte, verleugnet worden zu sein.
Nach dem Gespräch hatte Vivien sich wie benommen gefühlt – zum Glück, denn der Schmerz über das, was sie erfahren hatte, die Erkenntnis, dass sich alles, was sie für aufrichtig und gut gehalten hatte, als Lüge entpuppt hatte, wären andernfalls unerträglich gewesen. Sie versuchte sich einzureden, dass der Mann sich irrte, dass er ihr einen grausamen Streich gespielt habe – doch dann erinnerte sie sich an den verbitterten Ausdruck in Jimmys Gesicht, als sie ihn gefragt hatte, warum er und Dolly nicht sofort heirateten und an die Küste zogen; wie gereizt er ihr geantwortet hatte, romantische Ideale seien ein Luxus, den sich nicht jeder leisten könne. Und da wurde ihr klar, dass Dr. Rufus die Wahrheit gesagt hatte.
Reglos saß sie da, während all ihre Hoffnungen zerstoben. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur Jimmy als Mann geliebt hatte, sondern als das, was er repräsentierte: ein anderes Leben, Freiheit und die Zukunft, von der sie schon längst nicht mehr träumte. Und seltsamerweise auch die Vergangenheit – nicht die Vergangenheit ihrer Albträume, sondern die Möglichkeit, sich mit vergangenen Ereignissen zu versöhnen …
Erst als sie die Standuhr in der Eingangshalle schlagen hörte, wusste sie wieder, wo sie sich befand. Es war kühl geworden im Zimmer, und ihre Wangen waren feucht von den Tränen, die sie unbewusst vergossen hatte. Ein Luftzug kam von irgendwoher, und Jimmys Foto segelte vom Bett auf den Fußboden. Apathisch fragte sich Vivien, ob auch dieses Geschenk Teil der großen Intrige gewesen war, ein Trick, um ihr Vertrauen zu gewinnen, damit der Plan gelingen konnte: das belastende Foto, der Erpresserbrief – Vivien richtete sich auf. Ihr Magen zog sich zusammen. Plötzlich erkannte sie, dass mehr auf dem Spiel stand als ihr eigenes Glück. Viel mehr. Eine zerstörerische Lawine würde ins Rollen geraten, und sie war die Einzige, die sie aufhalten konnte. Sie legte den Telefonhörer auf und schaute auf ihre Armbanduhr. Zwei Uhr. Was bedeutete, dass sie drei Stunden hatte, bis sie wieder zurück im Haus sein musste, um sich für Henrys Dinnerparty zurechtzumachen.
Sie hatte keine Zeit zu trauern. Vivien ging an ihren Schreibtisch und tat, was sie tun musste. Auf dem Weg zur Tür zögerte sie kurz, das einzige äußere Anzeichen für den Aufruhr, der in ihr tobte, für die Angst, die sich ihrer bemächtigte, dann eilte sie noch einmal zurück, um das Buch zu holen. Sie kritzelte ihre Botschaft auf die Frontispizseite, schraubte ihren Füllfederhalter wieder zu, dann lief sie entschlossen nach unten und machte sich auf den Weg.
Mrs. Hamblin, die Mr.
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