Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
entschuldigen – Vivien war noch nie bereit gewesen, sich zu entschuldigen, wenn sie sich im Recht fühlte –, aber erklären.
Sie wollte Katy begreiflich machen – was ihr nicht gelungen war, als sie sich in London getroffen hatten –, dass ihre Beziehung zu Jimmy reine Freundschaft war, dass es da keine Hintergedanken gab, dass sie nicht die Absicht hatte, ihren Mann zu verlassen oder ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Sie wollte ihr von dem alten Mr. Metcalfe erzählen, wie es ihr gelang, ihn zum Lachen zu bringen, wie unbefangen sie sich fühlte, wenn sie sich mit Jimmy unterhielt oder wenn sie zusammen seine Fotos betrachteten, wie unbeirrbar er an das Gute im Menschen glaubte und nie etwas Böses tun könnte. Sie wollte Katy davon überzeugen, dass Jimmy für sie ein guter Freund war und mehr nicht.
Selbst wenn es im Grunde nicht der Wahrheit entsprach.
Vivien wusste genau, wann sie erkannt hatte, dass sie in Jimmy Metcalfe verliebt war. Sie hatte unten am Frühstückstisch gesessen, und Henry hatte von irgendeinem Vorfall im Ministerium gesprochen, und sie hatte brav genickt, während sie gleichzeitig an eine Begebenheit im Krankenhaus gedacht hatte – irgendetwas Lustiges, das Jimmy getan hatte, um einen kleinen Patienten aufzumuntern –, und dann hatte sie unwillkürlich gelacht, doch zum Glück war es genau an einer Stelle in Henrys Geschichte, die er amüsant fand, denn er hatte sie angelächelt und ihr einen Kuss gegeben und gesagt: »Ich wusste, dass du das genauso sehen würdest, Liebling.«
Vivien wusste aber auch, dass ihre Liebe nicht erwidert wurde und dass sie Jimmy ihre Gefühle niemals offenbaren würde. Selbst wenn er wider Erwarten dasselbe für sie empfinden sollte, so gab es doch für sie beide keine Zukunft. Das konnte sie ihm nicht bieten. Ihr Schicksal war besiegelt. Ihre Krankheit machte ihr keine Angst, inzwischen nicht mehr. Sie hatte irgendwann das Leben, das ihr blieb, akzeptiert, und sie brauchte keine heimlich geflüsterten Geständnisse oder körperlichen Liebesbezeugungen, um sich als ganzer Mensch zu fühlen.
Im Gegenteil. Damals in dem überfüllten Bahnhof, kurz bevor sie an Bord des Schiffes gegangen war, um in ein weit entferntes Land zu reisen, hatte Vivien begriffen, dass sie nur das Leben in ihrem Kopf wirklich kontrollieren konnte. Wenn sie sich in dem großen Haus in der Campden Grove befand und Henry im Badezimmer vor sich hinpfeifen hörte, während er sich im Spiegel bewunderte, reichte es ihr zu wissen, dass ihr Innenleben ihr ganz allein gehörte.
Trotzdem war es ein Schock gewesen, Jimmy mit Dorothy Smitham an seiner Seite zu sehen. Sie hatten sich ein oder zwei Mal über seine Verlobte unterhalten, aber Jimmy hatte sehr wortkarg reagiert, als das Thema aufgekommen war, und so hatte Vivien aufgehört nachzufragen. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihn als einen Mann zu betrachten, der kein Leben außerhalb des Krankenhauses hatte und bis auf seinen Vater keine Angehörigen. Ihn zusammen mit Dolly zu erleben (wie zärtlich er ihre Hand hielt, wie er sie unentwegt anschaute!), hatte sie gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Vivien mochte Jimmy vielleicht lieben, aber Jimmy liebte Dolly. Und Vivien konnte sogar verstehen, warum. Dolly war hübsch und lustig und von einem Tatendrang und einer Furchtlosigkeit beseelt, die sehr anziehend war. Natürlich liebte Jimmy sie. Kein Wunder, dass er alles daransetzte, ihre hochfliegenden Träume zu erfüllen – sie war genau der Typ Frau, die einen Mann wie Jimmy begeisterte.
Und genau das würde Vivien Katy erzählen: dass Jimmy verlobt war, dass seine Verlobte eine charmante junge Frau war und dass nichts dagegen sprach, mit einem solchen Mann freundschaftlich …
Das Telefon klingelte. Vivien betrachtete es verwundert. Tagsüber rief fast nie jemand bei ihnen an. Henrys Freunde und Bekannte riefen ihn im Ministerium an, und Vivien hatte nicht viele Freunde, erst recht keine, die sie zu Hause anriefen. Zögernd nahm sie den Hörer ab.
Die Stimme am anderen Ende war männlich und ihr unbekannt. Der Mann nannte seinen Namen so schnell, dass sie ihn nicht verstand. »Hallo?«, sagte sie noch einmal. »Wer spricht da bitte?«
»Dr. Lionel Rufus.«
Vivien konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben, und überlegte, ob er vielleicht ein Kol lege von Dr. Tomalin war. »Was kann ich für Sie tun, Dr. Rufus?« Manchmal fiel Vivien auf, dass ihre Stimme hier in diesem anderen Leben wie die
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