Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Gab es noch einen anderen Ort, an dem sie suchen konnten?
Laurel dachte an die verschlossene Truhe auf dem Dachboden, in der ihre Mutter das Buch und das Foto aufbewahrt hatte. Viel mehr hatte sich nicht in der Truhe befunden, nur der weiße Pelzmantel, der hölzerne Mr. Punch und die Dankeskarte. Der Mantel war Teil der Geschichte. Bei der Zugfahrkarte von 1941 konnte es sich nur um diejenige handeln, die Dorothy sich gekauft hatte, als sie aus London geflüchtet war. Die Herkunft der kleinen Holzfigur indes musste wohl unbekannt bleiben. Aber was war mit der Karte, auf deren Umschlag die Krönungsbriefmarke klebte? Beim Betrachten der Karte hatte Laurel ein vages Déjà-vu-Erlebnis gehabt … Vielleicht lohnte es sich, noch einmal einen Blick darauf zu werfen.
Später am Abend, als die Wärme des Tages sich verflüchtigt hatte und es dunkel geworden war, überließ es Laurel ihren Geschwistern, in alten Fotoalben zu blättern, und stieg auf den Dachboden. Ohne die geringsten Gewissensbisse hatte sie den Schlüssel aus dem Nachtschränkchen ihrer Mutter genommen. Vielleicht fand sie ihre Schnüffelei diesmal weniger schlimm, weil sie bereits wusste, was sie in der Truhe finden würde. Oder ihr moralischer Kompass funktionierte einfach nicht mehr. Wie auch immer, sie vergeudete keine Zeit, holte sich, was sie brauchte, und eilte wieder nach unten.
Als Laurel den Schlüssel zurücklegte, schlief Dorothy noch, das Laken bis unters Kinn gezogen, das Gesicht bleich auf dem Kissen. Laurel hatte der Krankenschwester, die vor einer Stunde gegangen war, geholfen, ihre Mutter zu waschen. Als sie ihr den Arm mit dem Waschlappen eingeseift hatte, hatte sie gedacht: Das sind die Arme, die mich gehalten haben. Als sie die alte Hand gehalten hatte, hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie ihre kleine Kinderhand die Sicherheit der Hand ihrer Mutter gesucht hatte. Selbst das Wetter, das für die Jahreszeit viel zu warm war, die von der Sonne aufgeheizte Luft, die durch den Kamin hereingedrückt wurde, hatte Laurel auf unerklärliche Weise wehmütig gemacht. Daran ist überhaupt nichts unerklärlich , hatte eine Stimme in ihrem Kopf gesagt. Deine Mutter liegt im Sterben – natürlich macht dich das wehmütig . Laurel mochte die Stimme nicht, und sie hatte sie verscheucht.
Rose steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Daphne hat gerade angerufen. Sie kommt morgen Mittag in Heathrow an.«
Laurel nickte. Gut so. Als die Krankenschwester sich am Nachmittag verabschiedet hatte, hatte sie ihnen mit einer Behutsamkeit, für die Laurel ihr dankbar war, gesagt, es sei an der Zeit, die Angehörigen zu versammeln. »Sie ist bald am Ziel«, hatte die Schwester gesagt. »Ihre lange Reise ist fast beendet.« Und es war wirklich eine lange Reise gewesen. Dorothy hatte bereits ein ganzes Leben gelebt, bevor Laurel überhaupt geboren war, ein Leben, von dem Laurel gerade erst eine Ahnung bekam.
»Brauchst du irgendwas?«, fragte Rose und legte den Kopf schräg, sodass ihre silbergrauen Locken über eine Schulter fielen. »Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?«
Laurel sagte: »Nein, danke«, und Rose ließ sie allein. Aus der Küche waren Geräusche zu hören: das Summen des Wasserkessels, Tassen, die auf die Arbeitsplatte gestellt wurden, Geschirr, das in der Schublade klapperte. Beruhigende Geräusche von Familienleben, und Laurel war froh, dass ihre Mutter zu Hause war und sie hörte. Sie setzte sich ans Bett und streichelte zärtlich Dorothys Wange.
Zuzusehen, wie der Brustkorb ihrer Mutter sich sanft hob und senkte, hatte etwas Tröstendes. Laurel fragte sich, ob sie auch im Schlaf hören konnte, was um sie herum passierte, ob sie dachte: Meine Kinder sind unten, meine erwachsenen Kinder, gesund und munter und froh, zusammen zu sein . Wer weiß? Auf jeden Fall schlief ihre Mutter jetzt ruhiger. Sie hatte keine Albträume mehr gehabt, und wenn sie wach war, war sie bei klarem Verstand. Die Rastlosigkeit – vermutlich durch Schuldgefühle verursacht –, die sie in den vergangenen Wochen gequält hatte, hatte sich gelegt.
Darüber war Laurel froh. Egal was in der Vergangenheit passiert war, der Gedanke, dass ihre Mutter, die so viele Jahre in Liebe und Güte (und womöglich Buße?) verbracht hatte, am Ende von Schuldgefühlen erdrückt würde, wäre unerträglich. Und doch war da diese egoistische Seite in Laurel, die mehr wissen wollte, die mit ihrer Mutter reden musste, bevor sie starb. Es schien ihr undenkbar, dass Dorothy
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