Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Nicolson von ihnen ging, ohne dass sie über das gesprochen hatten, was an jenem Tag 1961 geschehen war, und über das, was 1941 passiert war, über das »traumatische Ereignis«, das sie zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Denn Laurel war sich sicher, dass sie die Antworten, die sie brauchte, nur bekommen würde, wenn sie ihre Mutter direkt fragte. Frag mich das ein andermal, wenn du größer bist , hatte ihre Mutter gesagt, als Laurel wissen wollte, wie sie sich von einem Krokodil in eine Frau verwandelt hatte. Also schön, jetzt war es so weit. Jetzt wollte sie es wissen. Für sich selbst, aber mehr noch, um ihrer Mutter den Trost und die Vergebung zu spenden, nach der sie sich so sehnte.
»Erzähl mir von deiner Freundin, Ma«, sagte Laurel leise in die Stille des Zimmers hinein.
Dorothy regte sich, und Laurel wiederholte ihre Frage ein bisschen lauter: »Erzähl mir von Vivien.«
Sie rechnete nicht mit einer Antwort – die Schwester hatte Dorothy Morphium gegeben, bevor sie gegangen war –, und es kam auch keine. Laurel lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und nahm die alte Karte aus dem Umschlag.
Die Nachricht lautete nach wie vor schlicht und einfach: Danke . Kein Hinweis auf die Identität des Absenders, keine Antworten auf das Rätsel, das sie zu lösen versuchte.
Laurel drehte die Karte mehrmals um und fragte sich, ob sie der Karte nur deswegen eine solche Bedeutung beimaß, weil sie nichts anderes in der Hand hatte. Sie schob sie zurück in den Umschlag, und dabei fiel ihr Blick auf die Briefmarke.
Schon beim letzten Mal hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie sie an irgendetwas erinnerte.
Irgendetwas entging ihr, da war sie sich beinahe sicher, etwas, das mit der Briefmarke zu tun hatte.
Laurel hielt sie sich dichter vor die Augen, betrachtete das Gesicht der jungen Königin, ihren Krönungsmantel … Kaum zu glauben, dass das schon fast sechzig Jahre her war. Nachdenklich schüttelte sie den Umschlag. Vielleicht hatte die Bedeutung der Karte gar nicht so sehr mit dem Rätsel um die Vergangenheit ihrer Mutter zu tun, sondern vielmehr mit einem Ereignis, das Laurel als Achtjährige tief beeindruckt hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie die Krönungszeremonie im Fernsehen verfolgt hatte, wie die ganze Familie vor dem Gerät gesessen hatte, das ihre Eltern sich extra für den Anlass geliehen hatten.
»Laurel?« Die alte Stimme war so dünn wie ein Lufthauch.
Laurel legte die Karte weg, stützte sich mit den Ellbogen aufs Bett und nahm die Hand ihrer Mutter. »Ich bin hier, Ma.«
Dorothy lächelte schwach. Mit glasigen Augen schaute sie ihre älteste Tochter an. »Du bist da«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte gehört, wie … ich dachte, du hättest gesagt …«
Frag mich ein andermal, wenn du größer bist . Laurel hatte immer gewusst, dass es im Leben Momente gab, wo man an einem Scheideweg stand, und sie wusste, dass dies so ein Moment war. »Ich hab dich nach deiner Freundin gefragt, Ma«, sagte sie. »In London, während des Krieges.«
»Jimmy.« Der Name kam spontan, begleitet von einem panischen und zugleich traurigen Blick. »Er … ich bin nicht …«
Das Gesicht ihrer Mutter war Ausdruck ihrer inneren Qual, und Laurel beeilte sich, sie zu beruhigen. »Nein, nicht Jimmy, Ma – ich meinte Vivien.«
Dorothy sagte kein Wort. Laurel sah, wie ihre Kiefermuskeln arbeiteten.
»Ma, bitte.«
Vielleicht hatte Dorothy den verzweifelten Unterton in Laurels Stimme wahrgenommen, denn sie seufzte, und ihre Lider flatterten, und sie sagte: »Vivien … war schwach. Ein Opfer.«
Laurel standen die Nackenhaare zu Berge. Vivien war ein Opfer gewesen – Dorothys Opfer. Das klang wie ein Geständnis. »Was ist mit Vivien passiert, Ma?«
»Henry Jenkins – er war ein roher Mensch …«
»Henry Jenkins?«
»Er war bösartig … Er hat sie geschlagen …« Dorothy umklammerte Laurels Hand mit zitternden, knorrigen Fingern.
Laurel brach der Schweiß aus, als sie zu begreifen begann. Sie dachte an die Fragen, die sie sich beim Lesen von Katy Ellis’ Ta gebuch gestellt hatte. Vivien war weder krank noch unfruchtbar gewesen – sie war mit einem gewalttätigen Mann verheiratet gewesen. Mit einem charmanten Rohling, der seine Frau hinter verschlossenen Türen misshandelte und sich dann lächelnd der Welt präsentierte; der seine Frau so übel zurichtete, dass sie mehrere Tage brauchte, um sich davon zu erholen, während er an ihrem Bett wachte.
»Es war ein Geheimnis. Niemand
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