Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihr ausgerechnet in dem Augenblick die kleinen schwar zen Linien auf dem Umschlag aufgefallen waren.
Sie stutzte. Sie hatte die Zimmertür noch nicht erreicht, da blieb sie stehen. Sie trat unter die Lampe, setzte ihre Lesebrille auf und hielt sich den Umschlag dicht vor die Augen. Und dann breitete sich ganz langsam ein verwundertes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Sie hatte sich von der Briefmarke so ablenken lassen, dass sie den wichtigsten Hinweis glatt übersehen hatte, obwohl er direkt vor ihren Augen gelegen hatte. Die Briefmarke war abgestempelt. Der Stempel war nicht sehr kräftig, aber sie konnte noch erkennen, dass der Brief am 3. Juni 1953 aufgegeben worden war, und sogar, wo er aufgegeben worden war: Kensington, London.
Laurel betrachtete ihre schlafende Mutter. Genau dort, in Kensington, hatte ihre Mutter während des Kriegs gewohnt, in einem Haus in der Campden Grove. Aber wer hatte ihr zehn Jahre später eine Dankeskarte geschickt? Und warum?
30
London, 23. Mai 1941
V ivien schaute auf ihre Armbanduhr, dann zur Tür des Cafés, dann durchs Fenster auf die Straße. Jimmy hatte gesagt, um zwei, aber jetzt war es schon fast halb drei, und immer noch keine Spur von ihm. Vielleicht hatte er Probleme bei der Arbeit, oder vielleicht mit seinem Vater, aber das glaubte Vivien nicht. Seine Nachricht hatte dringend geklungen – er müsse sie unbedingt sehen –, und er hatte sie auf so kryptische Weise übermittelt. Vivien konnte sich nicht vorstellen, dass er sich würde aufhalten lassen. Sie biss sich auf die Lippe und schaute noch einmal auf ihre Uhr. Sie betrachtete die volle Teetasse, die sie sich vor einer Viertelstunde eingeschenkt hatte, die abgeplatzte Stelle am Rand der Untertasse, die inzwischen trockenen Teeblätter auf dem Löffel. Sie warf noch einmal einen Blick nach draußen, sah niemanden, den sie kannte, und zog sich die Hutkrempe vors Gesicht.
Seine Nachricht war eine Überraschung gewesen. Beim Lesen hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen. Als sie ihm den Scheck gegeben hatte, war sie fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Es war kein Trick gewesen, kein Bluff, um ihn dazu zu bewegen, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie hatte das Gegenteil erreichen wollen mit ihrem Schritt. Nach dem sie Dr. Rufus’ Geschichte gehört hatte, nachdem ihr klar geworden war, welche Folgen das alles haben könnte – für sie alle –, falls Henry von ihrer Freundschaft mit Jimmy und von ihrer Tätigkeit in Dr. Tomalins Krankenhaus erfuhr, war es ihr als der einzige Ausweg erschienen. Als der perfekte Ausweg. Auf diese Weise würde Dolly ihr Geld bekommen, und Jimmy würde sich auf eine Weise gekränkt fühlen, die einen ehrbaren, liebenswürdigen Mann wie ihn garantiert dazu bringen würde, sich für immer von ihr fernzuhalten – was bedeutete, dass er in Sicherheit war. Es war leichtsinnig gewesen, ihn so nahe an sich herankommen zu lassen. Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hatte sich selbst in diese missliche Lage gebracht.
Jimmy den Scheck zu geben, hatte ihr in gewisser Weise sogar das gegeben, wonach sie sich am meisten sehnte. Sie musste beinahe lächeln, als sie jetzt daran dachte. Ihre Liebe zu Jimmy war selbstlos: nicht weil sie ein guter Mensch war, sondern weil es so sein musste. Henry würde nicht einmal eine Freundschaft zwischen ihnen dulden, und so hatte sie ihre Liebe dahin gelenkt, dass sie Jimmy das bestmögliche Leben wünschte, selbst wenn sie es nicht mit ihm teilen konnte. Jetzt konnten Jimmy und Dolly alles tun, wovon sie schon immer geträumt hatten: Sie konnten aus London weggehen, heiraten und bis an ihr Lebensende glücklich zusammenleben. Und indem Vivien Geld verschenkte, das Henry so eifersüchtig hütete, konnte sie gleich zeitig auch ihm eins auswischen – auf die einzige Weise, die ihr zu Gebote stand. Er würde es natürlich herausfinden. Die strengen Auflagen für die Verwendung ihres Erbes waren nicht leicht zu umgehen, aber Vivien interessierte sich weder besonders für Geld noch für das, was man damit kaufen konnte. Sie stellte Henry jede Summe zur Verfügung, die er von ihr verlangte, und brauchte nur sehr wenig für sich selbst. Dennoch kontrollierte er genau, welcher Betrag wofür ausgegeben wurde. Sie würde einen hohen Preis für ihren Schritt zahlen, genauso wie sie dafür bezahlt hatte, dass sie dem Krankenhaus Geld gespendet hatte, aber das war es ihr wert. Es verschaffte ihr eine tiefe Genugtuung, das Geld, nach dem er
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