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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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so gierte, anderen zu geben.
    Trotzdem, nichts in ihrem Leben hatte sie mehr Überwindung gekostet, als sich von Jimmy zu verabschieden. Als sie jetzt die unbändige Vorfreude spürte, die sie erfüllte, während sie darauf wartete, dass er durch diese Tür dort kommen würde, mit seinem dunklen Haar, das ihm in die Augen fiel, und dem geheimnisvollen Lächeln, das ihr das Gefühl gab, dass er sie verstand, ohne dass sie ein Wort wechseln mussten, konnte sie selbst nicht glauben, dass sie die Kraft für den Abschied gefunden hatte.
    Sie blickte auf, als eine Kellnerin an ihren Tisch trat und fragte, ob sie etwas zu essen bestellen wolle. Vivien verneinte. Ihr kam in den Sinn, dass Jimmy womöglich schon hier gewesen und wieder gegangen war, dass sie ihn verpasst hatte – Henry war in den vergangenen Tagen ungewöhnlich gereizt gewesen, und es war ihr nicht leichtgefallen, sich loszueisen –, aber die Kellnerin schüttelte den Kopf, als Vivien sie fragte. »Ich kenne den jungen Mann«, sagte sie. »Ein gut aussehender Bursche mit einer Kamera.« Vivien nickte. »Ich hab ihn schon seit ein paar Tagen nicht gesehen – tut mir leid.«
    Die Kellnerin ging, und Vivien sah wieder aus dem Fenster, um nach Jimmy Ausschau zu halten – und nach irgendjemandem, der sie womöglich beobachtete. Das, was Dr. Rufus ihr am Telefon gesagt hatte, hatte sie zunächst schockiert, aber auf dem Weg zu Jimmy hatte sie geglaubt, alles zu verstehen: wie sehr Dolly sich verletzt gefühlt hatte, als sie sich verleugnet glaubte, ihre Rachegelüste, ihr Wunsch, sich neu zu erfinden und noch einmal ganz von vorne anzufangen. Es gab Leute, dachte Vivien, für die ein solcher Plan undenkbar wäre, aber sie gehörte nicht dazu. Ihr fiel es nicht besonders schwer nachzuvollziehen, dass jemand einen derartigen Aufwand betreiben würde, wenn er davon überzeugt war, sich damit einen Neuanfang ermöglichen zu können. Vor allem jemand wie Dolly, die nach dem Verlust ihrer Familie ganz allein dastand.
    Das Einzige an Dr. Rufus’ Geschichte, was sie wirklich tief getroffen hatte, war die Rolle, die Jimmy angeblich bei der Sache spielte. Vivien konnte einfach nicht glauben, dass alles, was sie und Jimmy zusammen erlebt hatten, Heuchelei gewesen war. Sie wusste einfach, dass das nicht sein konnte. Egal was zu der Begegnung auf der Straße geführt hatte, die Gefühle zwischen ihnen waren echt gewesen. Das wusste sie tief in ihrem Herzen, und ihr Herz irrte sich nie. Sie hatte es an dem allerers ten Abend in der Kantine gespürt, als das Foto von Nella ihr einen Ausruf des Erstaunens entlockt hatte und als Jimmy aufgeblickt hatte und ihre Blicke sich begegnet waren. Und sie wusste es, weil er nicht weggegangen war. Sie hatte ihm den Scheck gegeben – sicherlich mehr, als Dolly je verlangt hätte –, aber er war stehen geblieben. Er hatte sie nicht gehen lassen wollen.
    Jimmy hatte ihr die Nachricht durch eine Frau überbringen lassen, die sie nicht kannte, eine merkwürdige kleine Frau, die an ihre Haustür in der Campden Grove Nr. 25 geklopft hatte, in der Hand eine Sammelbüchse für einen Krankenhausfonds für Kriegsveteranen. Als Vivien ihre Geldbörse holen wollte, hatte die Frau den Kopf geschüttelt und geflüstert, Jimmy müsse sie unbedingt treffen, am Freitag um zwei Uhr in dem Bahnhofscafé, in dem sie jetzt saß. Im nächsten Moment war sie schon wieder verschwunden gewesen, und Vivien hatte gespürt, wie Hoffnung in ihr aufkeimte.
    Aber – Vivien schaute noch einmal auf ihre Uhr – es war jetzt schon fast drei Uhr. Er würde nicht kommen. Sie wusste es. Sie wusste es seit einer halben Stunde.
    In einer Stunde würde Henry nach Hause kommen, und sie musste noch einige Dinge erledigen, bevor er eintraf, Dinge, die zu ihren häuslichen Pflichten gehörten. Sie stand auf und schob den Stuhl unter den Tisch. Ihre Enttäuschung war hundertmal größer als an dem Tag, als sie sich von Jimmy verabschiedet hatte. Aber sie konnte nicht länger warten. Sie war jetzt schon länger geblieben, als sie eigentlich riskieren konnte. Sie bezahlte ihren Tee, sah sich ein letztes Mal in dem Café um, zog sich den Hut tiefer in die Stirn und eilte zurück nach Hause.
    »Warst du spazieren?«
    Vivien zuckte zusammen, als sie die Eingangshalle betrat. Sie schaute durch die geöffnete Tür ins Wohnzimmer. Henry saß im Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, die schwarzen Schuhe glänzten makellos, und beäugte sie über eine dicke Ministeriumsakte

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