Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
jemandem. Ich glaube Jimmy. Kann das sein? Sie hat mich gefragt, wo er ist, warum er sie nicht besuchen kommt.«
Laurel hatte kurz über den Namen nachgedacht, dann den Kopf geschüttelt und der Schwester eine ehrliche Antwort gegeben. Sie glaube nicht, dass ihre Mutter einen Jimmy kenne.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, hatte die Schwester sie lächelnd beruhigt. »Sie ist in letzter Zeit einfach sehr verwirrt gewesen, das ist in diesem Stadium nichts Ungewöhnliches.«
Bevor Laurel sich noch recht über die unverblümte Ausdrucksweise hatte ärgern können, von wegen: »in diesem Stadium«, war Iris mit einem empörten Stirnrunzeln aufgetaucht, in der Hand einen defekten Wasserkocher, und sie hatte die Sache auf sich beruhen lassen. Erst später, als sie vor dem Eingang des Pflegeheims heimlich eine Zigarette geraucht hatte, war ihr klar geworden, dass es sich um einen Irrtum handeln musste, dass Ma natürlich nach Gerry gefragt hatte und nicht nach einem Jimmy.
Der Taxifahrer bog schwungvoll in die Brompton Road ein, und Laurel klammerte sich an ihren Sitz. »Baustelle«, erklärte er, als er an der Rückseite von Harvey Nichols vorbeifuhr. »Luxusapartments. Seit einem Jahr wird hier schon gebaut, und der verdammte Kran steht immer noch da.«
»Ärgerlich.«
»Die meisten sind schon verkauft. Vier Millionen Pfund muss man für so was hinblättern.« Er pfiff durch die Zähne. »Vier Millionen Pfund! Für das Geld würd ich mir ’ne Insel kaufen.«
Laurel schenkte dem Fahrer ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass er es nicht als Ermunterung missverstehen möge, das Thema weiter auszuführen – sie hasste Gespräche über das Geld anderer Leute. Zur Sicherheit hielt sie sich das Smartphone dichter vor die Nase.
Sie wusste, warum sie an Gerry dachte, warum sie in den Gesichtern fremder kleiner Jungen Ähnlichkeiten mit ihm entdeckte. Sie beide hatten einander einmal sehr nahegestanden, aber als er siebzehn war, hatte sich das geändert. Er hatte sie auf dem Weg nach Cambridge besucht und war ein paar Tage geblieben (er hatte ein Stipendium erhalten, wie Laurel jedem, der es hören wollte oder auch nicht, stolz erzählt hatte), und sie hatten viel Spaß zusammen gehabt – wie immer. Sie hatten sich am Nachmittag Die Ritter der Kokosnuss angesehen und dann beim Inder an der Straßenecke zu Abend gegessen. Später, den Bauch voll mit köstlichem Tikka Masala, waren sie mit Kissen und Decken aus dem Badezimmerfenster geklettert und hatten auf dem Dach einen Joint geraucht.
Es war eine besonders klare Nacht gewesen – es kam ihnen so vor, als hätten sie noch nie so viele Sterne gesehen –, und von der Straße war das herzerwärmende Lachen ausgelassener Leute zu ihnen hochgedrungen. Marihuana machte Gerry stets gesprächig. Er versuchte ihr den Urknall zu erklären, zeigte auf Sternenkonstellationen und Galaxien und beschrieb mit seinen zarten, nervösen Händen riesige Explosionen, und Laurel starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Nachthimmel, bis die Sterne verschwammen und ineinanderflossen und Gerrys Worte sich anhörten wie gurgelndes Wasser. Sie war in einen Strom aus Sternennebeln und Sonnenflecken und Supernovas eingetaucht und hatte gar nicht gemerkt, dass er seinen Monolog beendet hatte, bis sie ihn plötzlich »Lol« sagen hörte, in einem Ton, den Leute annehmen, wenn sie etwas schon mehrmals vergeblich wiederholt haben.
»Hä?« Sie schloss abwechselnd das rechte und das linke Auge, um die Sterne am Himmel hüpfen zu lassen.
»Ich wollte dich schon länger etwas fragen.«
»Ja?«
»Mein Gott.« Er lachte. »Ich habe das in Gedanken schon so oft gesagt, und jetzt bring ich’s nicht über die Lippen.« Er fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare und schnaubte. »Hm. Also gut: Ich wollte dich schon immer fragen, ob etwas passiert ist, als wir noch Kinder waren. Etwas …« Er holte tief Luft, dann senkte er die Stimme: »Etwas Schlimmes.«
Da hatte sie es gewusst. Irgendein sechster Sinn hatte ihren Puls zum Rasen gebracht, und ihr war der Schweiß ausgebrochen. Er erinnerte sich. Sie waren immer davon ausgegangen, dass er zu klein gewesen war, aber er erinnerte sich tatsächlich.
»Etwas Schlimmes?« Sie setzte sich auf, schaute ihn jedoch nicht an. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen und ihn anlügen. »Du meinst, etwas Schlimmeres als die ewigen Zankereien zwischen Daphne und Iris, wer als Erste ins Bad darf?«
Er lachte nicht. »Ich weiß, es klingt bescheuert,
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