Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
eine Kellnerin zu sich, bat sie, den Tee in den Aufnahmeraum zu bringen, dann gingen sie zum Aufzug.
»Okay?«, fragte Claire, als die Türen sich schlossen.
»Okay«, sagte Laurel und gab sich alle Mühe, es selbst zu glauben.
Das Filmteam hatte denselben Raum wie beim letzten Mal gebucht. Es war nicht gerade ideal, ein solches Gespräch über den Zeitraum von einer Woche zu drehen; man musste auch an die Continuity denken (weswegen Laurel unter anderem stets dieselbe Bluse tragen musste).
Der Produzent empfing sie an der Tür, und die Kostümbild nerin brachte Laurel zur Umkleide, wo ein Bügelbrett samt Bügeleisen bereitstand. Ihr Magen verkrampfte sich noch mehr, was man ihr anscheinend ansah, denn Claire fragte: »Soll ich mitkommen?«
»Nein, danke«, zischte Laurel und verscheuchte alle Gedanken an ihre Mutter und an Gerry und an die dunklen Geheimnisse aus der Vergangenheit. »Ich bin durchaus in der Lage, mich allein umzuziehen.«
Der Interviewer (»Nennen Sie mich Mitch«) strahlte, als er sie erblickte, und zeigte auf einen Sessel neben einer altmodischen Schneiderpuppe. »Ich freue mich sehr, dass wir das noch mal wiederholen können«, sagte er, nahm ihre Hand mit beiden Händen und drückte sie eifrig. »Wir sind alle ganz begeistert von den bisherigen Ergebnissen. Ich habe mir einen Teil der Aufnahmen von der letzten Woche angesehen – sie sind ausgezeichnet. Das Gespräch mit Ihnen wird ein Highlight der Serie sein.«
»Freut mich zu hören.«
»Heute brauchen wir nicht viel – nur ein paar Kleinigkeiten, die ich gern noch klären möchte, wenn es Ihnen recht ist. Nur damit wir keine Schwachstellen haben, wenn wir das Material schneiden.«
»Selbstverständlich.« Nichts tat sie lieber, als ihre Schwachstellen zu erkunden, außer vielleicht, sich einer Zahnwurzelbehandlung zu unterziehen.
Minuten später, nach der Maske und dem Soundcheck, saß Laurel in ihrem Sessel und wartete. Schließlich gingen die Schein werfer an, und ein Assistent verglich das Szenenbild mit Polaroid-Fotos von der vergangenen Woche; es wurde um Ruhe gebeten, und jemand hielt eine Klappe vor Laurels Gesicht. Schnapp, machte das Krokodil.
Mitch, der ihr gegenübersaß, beugte sich vor.
»Aufnahme läuft«, sagte der Kameramann.
»Ms. Nicolson«, begann Mitch, »wir haben uns ausführlich über die Höhen und Tiefen Ihrer Karriere als Schauspielerin unterhalten, aber unsere Zuschauer interessiert vor allem die Herkunft Ihrer Idole. Können Sie uns etwas über Ihre Kindheit erzählen?«
Das Skript war simpel aufgebaut; Laurel hatte es selbst geschrieben. Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte in einem Bauernhaus auf dem Land, in einer perfekten Familie: viele Schwestern, ein kleiner Bruder und Eltern, die einander fast so sehr liebten, wie sie ihre Kinder liebten. Die Kindheit des kleinen Mädchens verlief glücklich und unbeschwert, erfüllt von sonnigen Tagen und fantasievollen Spielen, und als die Fünfzigerjahre zu Ende gingen und die Ära der Sechzigerjahre begann, ging sie in die große Stadt London und geriet in den Sog einer kulturellen Revolution. Das Glück meinte es gut mit ihr (Dankbarkeit kam gut an in Interviews), doch gleichzeitig war sie wild entschlossen, ihre Chance zu nutzen (nur die militant Sanftmütigen schreiben ihren Erfolg ausschließlich dem Zufall zu), auf jeden Fall war sie seit dem Abschluss der Schauspielschule nie arbeitslos gewesen.
»Ihre Kindheit scheint eine Idylle gewesen zu sein.«
»Das könnte man so sagen.«
»Geradezu perfekt.«
»Keine Familie ist perfekt.« Laurel hatte einen trockenen Mund.
»Würden Sie sagen, dass Ihre Kindheit Sie als Schauspielerin geprägt hat?«
»Ich denke, ja. Jeder wird von seinem Umfeld geprägt. Heißt es nicht so? Aber ich bin keine Soziologin.«
Mitch lächelte und kritzelte etwas auf einen Notizblock auf seinem Knie. Das Kratzen seines Stifts auf dem Papier löste eine Erinnerung aus. Sie war sechzehn und saß im Wohnzimmer ihres Elternhauses, während ein Polizist alles mitschrieb, was sie sagte …
»Sie sind mit vier Geschwistern aufgewachsen. Gab es Konkurrenzkämpfe zwischen Ihnen? Waren Sie gezwungen, Strategien zu entwickeln, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?«
Laurel brauchte unbedingt ein Glas Wasser. Sie schaute sich nach Claire um, die sich jedoch in Luft aufgelöst zu haben schien. »Eher im Gegenteil. Ich habe früh gelernt, mich zurückzuziehen.« Darin hatte sie sogar ein solches Geschick entwickelt, dass
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