Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sie während eines Versteckspiels unbemerkt von einem Familienpicknick hatte verschwinden können.
»Als Schauspielerin können Sie sich aber schlecht zurückziehen.«
»Bei der Schauspielerei geht es im Grunde nicht darum, sich in den Vordergrund zu spielen, sondern darum, zu beobachten.« Das hatte einmal ein Mann am Bühneneingang zu ihr gesagt, als sie, noch ganz aufgeputscht von der Energie der Vorstellung, das Theater verlassen hatte. Der Mann hatte sie angesprochen, um ihr zu sagen, wie gut ihm das Stück gefallen hatte. »Sie haben eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe«, hatte er zu ihr gesagt. »Sie gehen nicht nur mit offenen Augen und Ohren, sondern auch mit offenem Herzen durchs Leben.« Die Worte hatten seltsam vertraut geklungen, wie ein Zitat aus irgendeinem Stück, aber Laurel konnte sich nicht erinnern, aus welchem.
Mitch legte den Kopf schief. »Sind Sie denn eine gute Beobachterin?«
Wie seltsam, dass sie sich ausgerechnet jetzt an den Mann am Bühneneingang erinnerte, an das Zitat, das sie nicht zuordnen konnte, so vertraut und zugleich so flüchtig. Eine Zeit lang hatte es sie vollkommen verrückt gemacht. Auch jetzt nagte es sofort wieder an ihr. Sie merkte, wie sie den Faden verlor. Sie hatte Durst. Da stand Claire. Sie stand im Schatten neben der Tür und schaute zu.
»Ms. Nicolson?«
»Ja?«
»Sind Sie eine gute Beobachterin?«
»Ja, das bin ich allerdings.« Versteckt in einem Baumhaus, mucksmäuschenstill. Laurels Herz raste. Die Hitze im Raum, all die Leute, die sie anstarrten, die Scheinwerfer …
»Sie sagten, Ihre Mutter sei eine sehr willensstarke Frau gewesen, Ms. Nicolson. Sie hat den Krieg überlebt, sie hat ihre Familie bei einem Bombenangriff verloren und noch einmal von vorn anfangen müssen. Glauben Sie, Sie haben die Stärke Ihrer Mutter geerbt? Ist es diese Stärke, die Sie befähigt hat, in einem bekanntlich harten Geschäft nicht nur zu überleben, sondern Erfolg zu haben?«
Die nächste Antwort war leicht, Laurel hatte sie schon tausendmal wiederholt. Aber jetzt wollten ihr die Worte nicht einfallen. Stumm wie ein Karpfen saß sie da und starrte ins Leere. Ihr schwirrten Bilder im Kopf herum – das Haus in der Campden Grove, das Foto mit den lächelnden Gesichtern von Dorothy und Vivien, ihre müde alte Mutter in einem Krankenhausbett … Der Kameramann richtete sich auf, die Assistenten begannen miteinander zu flüstern, aber Laurel saß wie versteinert da, geblendet von dem grellen Scheinwerferlicht, und das Einzige, was sie sah, war ihre Mutter, die junge Frau auf dem Foto, die London 1941 verlassen hatte, vor irgendetwas auf der Flucht, auf der Suche nach einer zweiten Chance.
Jemand berührte ihr Knie. Der junge Mann, Mitch, schaute sie besorgt an: Ob sie eine Pause brauche, etwas zu trinken, frische Luft? Ob er irgendetwas für sie tun könne?
Laurel brachte ein Nicken fertig. »Wasser«, sagte sie. »Ein Glas Wasser, bitte.«
Dann war Claire bei ihr. »Was ist los?«
»Nichts, es ist nur ein bisschen warm hier.«
»Laurel Nicolson, ich bin deine Agentin, und vor allem bin ich eine deiner ältesten Freundinnen. Also: Was ist los?«
»Meine Mutter«, sagte Laurel und presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. »Es geht ihr nicht gut.«
»Ach, das tut mir leid.« Claire nahm Laurels Hand.
»Sie stirbt, Claire.«
»Sag mir, was du brauchst.«
Laurel schloss die Augen. Sie brauchte Antworten, die Wahrheit, sie musste sich vergewissern, dass ihre glückliche Familie, ihre Kindheit, dass all das keine Lügen gewesen waren. »Zeit«, sagte sie schließlich. »Ich brauche Zeit. Es bleibt nicht mehr viel.«
Claire drückte ihre Hand. »Dann bekommst du Zeit.«
»Aber der Film …«
»Denk nicht darüber nach. Ich kümmere mich darum.«
Mitch kam mit einem Glas Wasser. Er blieb nervös neben Laurel stehen, während sie es austrank.
Claire sagte: »Abgemacht?« Und als Laurel nickte, wandte sie sich an Mitch: »Nur noch eine Frage, und dann müssen wir leider für heute Schluss machen. Ms. Nicolson hat noch einen Termin.«
»Selbstverständlich.« Mitch schluckte. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht … Ich wollte Ihnen in keiner Weise zu nahe treten …«
»Keine Sorge, das sind Sie nicht.« Claire lächelte mit der Wärme eines arktischen Winters. »Dann können wir also jetzt weitermachen.«
Laurel stellte ihr Glas ab und machte sich bereit. Ein schweres Gewicht war von ihr abgefallen, denn sie hatte einen Entschluss gefasst. Während des
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