Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
»Jemand muss sie erzählen.« Das Höchste, was Dolly in ihrem ersten Jahr in London an Glamour und Aufregung erlebt hatte, war die eine oder andere elegant gekleidete Dame gewesen, die auf dem Weg zur Bond Street am John Lewis vorbeistöckelte – und die erwartungsvollen Gesichter der anderen Mieterinnen in Mrs. Whites Pension, die sie, wenn sie nach dem Abendessen im Wohnzimmer beisammensaßen, bedrängten, noch einmal zu erzählen, wie ihr Vater getobt hatte, als sie von zu Hause fortgegangen war, und ihr rieten, sich nie wieder in ihrem Elternhaus blicken zu lassen. Sie kam sich interessant und verwegen vor, wenn sie beschrieb, wie das Gartentor hinter ihr ins Schloss gefallen war, wie sie sich den Schal über die Schulter geworfen hatte und zum Bahnhof gegangen war, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Später jedoch, wenn sie in ihrem kleinen Zimmer allein in dem schmalen Bett lag, hatte die Erinnerung sie frösteln lassen.
Alles hatte sich geändert, nachdem sie die Stelle als Verkäuferin in dem Kaufhaus verloren hatte. (Eigentlich war es ein dummes Missverständnis gewesen, denn es war schließlich nicht ihre Schuld, dass einige Leute Ehrlichkeit nicht zu schätzen wussten und beleidigt reagierten, wenn man sie darauf hinwies, dass kürzere Röcke nicht jeder Frau standen.) Es war Dr. Rufus gewesen, Caitlins Vater, der sie aus ihrer Not rettete. Als ihm der Vorfall zu Ohren gekommen war, hatte er sich erinnert, dass einer seiner Bekannten eine Gesellschafterin für seine Tante suchte. »Eine bemerkenswerte alte Dame«, hatte er beim Mittagessen im Savoy gesagt, wohin er Dolly regelmäßig einlud, wenn er nach London kam und seine Frau mit Caitlin einkaufen ging. »Anscheinend ziemlich exzentrisch – und einsam. Sie ist nie dar über hinweggekommen, dass ihre Schwester geheiratet und sie verlassen hat. Kannst du mit alten Leuten umgehen?«
»Ja«, sagte Dolly, während sie sich auf ihren Champagner-Cocktail konzentrierte. Es war ihr allererster, und er machte sie ein bisschen beschwipst, aber auf überraschend angenehme Weise. »Sicher. Warum nicht?« Daraufhin hatte Dr. Rufus zufrieden gestrahlt. Er setzte ein Empfehlungsschreiben für sie auf, indem er sie seinem Bekannten ans Herz legte; er erbot sich sogar, sie zu ihrem Vorstellungsgespräch zu fahren. Der Neffe wollte den Familiensitz für die Dauer des Kriegs eigentlich dicht machen, erklärte Dr. Rufus, während sie durch Kensington fuhren, aber die alte Dame habe sich strikt geweigert, das Haus zu verlassen, und sogar damit gedroht, ihren Anwalt einzuschalten, wenn man sie nicht gewähren ließ.
Seit sie vor zehn Monaten ihren Dienst bei Lady Gwendolyn angetreten hatte, hatte Dolly die Geschichte bereits mehrfach gehört. Die alte Frau erzählte gern, wie ihr Neffe, »der Schuft«, versucht habe, sie – »gegen meinen Willen« – aus London fortzulocken, aber sie habe darauf bestanden, in dem Haus zu bleiben, in dem die Geschwister – »Henny Penny und ich« – aufgewachsen waren. »Sie müssen mich schon mit den Füßen zuerst raustragen. Und ich werde Peregrine noch als Geist verfolgen, falls er es wagen sollte …«
Dolly konnte Lady Gwendolyns Haltung nur bewundern, und sie musste ihr dankbar sein, denn schließlich hatte sie es der Sturheit der alten Dame zu verdanken, dass sie jetzt in diesem prächtigen Haus in der Campden Grove Nr. 7 wohnte.
Und es war wirklich ein prächtiges Haus. Von außen eher schlicht: drei Stockwerke, ein Kellergeschoss; weißer Stuck mit schwarzen Akzenten; zur Straße hin ein kleiner Vorgarten. Aber die Inneneinrichtung: William-Morris-Tapeten, erlesene Möbel, deren Patina verriet, dass sie schon seit Generationen da standen, Glasschränke, deren Einlegeböden unter dem Gewicht von Kristall, Silber und Porzellan ächzten. Es bildete einen krassen Kontrast zu Mrs. Whites Pension am Rillington Place, wo Dolly die Hälfte ihres Lohns als Verkäuferin dafür hergeben musste, in einer ehemaligen Vorratskammer zu schlafen, in der es penetrant nach Eintopf roch. In dem Moment, als sie durch Lady Gwendolyns Haustür getreten war, hatte Dolly gewusst, dass sie hier und nirgendwo sonst wohnen wollte, koste es, was es wolle.
Und so war sie bei Lady Gwendolyn in Stellung gegangen. Der einzige Haken an der Sache war die alte Dame selbst: Dr. Rufus hatte vollkommen richtiggelegen – sie war exzentrisch. Was er nicht erwähnt hatte, war, dass die Lady dreißig Jahre Einsamkeit dazu genutzt hatte, einen
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