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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Vivien Henry kennengelernt hatte –, es stand alles in dem Buch, aber sie behielt es für sich. Vivien war ihre Freundin. So über sie zu reden, zu wissen, dass die anderen sie beobachteten und Mutmaßungen über sie anstellten, empörte sie zutiefst. Es war, als beanspruchten die anderen etwas für sich, das ihr ganz allein gehörte.
    »Ich habe gehört, sie ist nicht ganz gesund«, sagte Louisa. »Deswegen lässt er sie nicht aus den Augen.«
    Kitty schnaubte. »Für mich sieht sie kein bisschen krank aus. Im Gegenteil. Ich sehe sie manchmal bei der Kantine des Frauenfreiwilligendienstes in der Church Street, wenn ich abends von der Arbeit komme.« Sie senkte die Stimme, und die anderen beugten sich vor. »Es heißt, sie hätte da ein Techtelmechtel.«
    »Aha!«, riefen Betty und Susan. »Ein Liebhaber!«
    »Ist euch noch nicht aufgefallen, wie vorsichtig sie ist?«, fuhr Kitty fort und sah verschwörerisch in die Runde. »Wie sie ihn immer perfekt zurechtgemacht an der Tür empfängt, wenn er nach Hause kommt, und ihm ein Glas Whisky in die wartende Hand drückt? Also, ich bitte euch! Das ist doch keine Liebe, das ist das schlechte Gewissen in Person. Ich sage euch, diese Frau hat etwas zu verbergen, und ich glaube, wir alle wissen, was das ist.«
    Dolly hatte genug gehört; sie konnte Lady Gwendolyn nur darin zustimmen, dass es besser wäre, wenn die vier jungen Frauen auszögen, und zwar je eher, je lieber. Was für primitive Klatschweiber. »Gott, ist es schon so spät?«, sagte sie und klappte ihr Buch zu. »Ich glaube, ich werde ein Bad nehmen.«
    Als die Badewanne gerade einmal zu einem Drittel gefüllt war, drehte sie das Wasser mit dem Fuß ab. Sie steckte den großen Zeh in den Hahn, damit er aufhörte zu tropfen. Eigentlich müsste sie jemanden kommen lassen, der den Wasserhahn reparierte, aber an wen konnte man sich noch wenden? Die Klempner hatten genug damit zu tun, Feuer zu löschen und Rohrbrüche zu beheben, die hatten keine Zeit, sich um einen tropfenden Wasserhahn zu kümmern, und nach einer Weile hörte es ja meist von allein auf. Vorsichtig, damit ihre Lockenwickler und Klammern sich nicht in die Haut drückten, legte sie den Kopf auf den kühlen Wannenrand. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden, um zu verhindern, dass ihre Haare vom Wasserdampf strähnig wurden. Dolly konnte sich gar nicht erinnern, wann sie zuletzt in dampfendem Badewasser gelegen hatte.
    Sie ließ ihren Blick wandern, während sie der Tanzmusik lauschte, die aus dem Radio im Erdgeschoss nach oben drang. Es war ein schönes Bad, mit schwarzen und weißen Fliesen und chromglänzenden Handtuchhaltern und Armaturen. Lady Gwendolyns unausstehlicher Neffe Peregrine würde einen Anfall kriegen, wenn er die kreuz und quer durch das Bad gespannten Wäscheleinen sähe, an denen Schlüpfer, Büstenhalter und Seidenstrümpfe zum Trocknen hingen. Der Gedanke gefiel Dolly.
    Sie zündete sich eine Zigarette an und hob ihr Buch vom Boden neben der Wanne auf. Vorsichtig darauf bedacht, dass es nicht nass wurde, blätterte sie in dem Buch, bis sie die Stelle fand, die sie suchte. Humphrey, der kluge, aber unglückliche Ich-Erzähler, war eingeladen worden, in seinem ehemaligen Internat einen Vortrag zu halten und den Jungen etwas über Literatur zu erzählen, gefolgt von einem Abendessen in den Privaträumen des Schuldirektors. Er hat sich gerade verabschiedet und schlendert durch die dunkle Parkanlage zu der Stelle, wo er seinen Wagen geparkt hat, in Gedanken vertieft über die Entwicklung, die sein Leben genommen hat, über verpasste Chancen und »die Unerbittlichkeit, mit der die Zeit vergeht«, als in der Nähe des Teichs etwas seine Aufmerksamkeit erregt.
    Humphrey senkte seine Taschenlampe und blieb reglos im Schatten des Badehauses stehen. Auf der Lichtung am Ufer des Teichs hingen Glaslaternen in den Ästen, und Kerzen flackerten in der lauen Nachtluft. Ein junges Mädchen stand barfuß inmitten der Kerzen, bekleidet nur mit einem einfachen Sommerkleid, das seine Knie umspielte. Ihr dunkles, welliges Haar fiel ihr über die Schultern, und das Mondlicht verlieh ihrem Profil einen zarten Schimmer. Humphrey sah, dass ihre Lippen sich bewegten, als sagte sie ganz leise ein Gedicht auf.
    Ihr Gesicht war liebreizend, aber es waren vor allem ihre Hände, die ihn faszinierten. Während sie reglos dastand, bewegten sich ihre Finger vor ihrer Brust auf anmutige Weise, als webten sie unsichtbare Fäden.
    Er hatte viele Frauen gekannt,

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