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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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schöne Frauen, die schmeichelten und verführten, aber dieses junge Mädchen war anders. In ihrer Konzentration lag Schönheit, eine Versunkenheit, die ihn an die eines Kindes erinnerte, obwohl sie zweifellos eine Frau war. Sie so in der Natur zu erleben, ihre fließenden Bewegungen und ihren wild-romantischen Gesichtsausdruck zu beobachten, verzauberte ihn.
    Humphrey trat aus dem Schatten heraus. Das junge Mädchen sah ihn, erschrak aber nicht. Vielmehr lächelte sie, als hätte sie ihn erwartet, und sie zeigte auf den See, dessen Oberfläche sich sanft kräuselte. »Im Mondlicht zu schwimmen hat etwas Magisches, finden Sie nicht?«
    Das Kapitel war zu Ende, und ihre Zigarette war aufgeraucht, und Dolly legte beides weg. Das Wasser war inzwischen nur noch lauwarm, und sie wollte sich waschen, ehe es ganz kalt wurde. Gedankenversunken seifte sie sich die Arme ein, und während sie den Schaum abspülte, fragte sie sich, ob Jimmy wohl ähnliche Gefühle für sie hegte.
    Dolly stieg aus der Wanne und nahm sich ein Handtuch. Als sie sich dabei zufällig im Spiegel sah, hielt sie inne und versuchte sich vorzustellen, was ein Fremder empfinden würde, wenn er sie so sah. Braunes Haar, braune Augen – die Gott sei Dank nicht zu eng standen –, kesse Stupsnase. Sie wusste, dass sie hübsch war, sie wusste es, seit sie elf war und der Briefträger anfing, sich komisch zu benehmen, wenn er ihr auf der Straße begegnete, aber war sie auf andere Weise schön als Vivien? Wäre ein Mann wie Henry Jenkins wie gebannt stehen geblieben, wenn er sie im Mondlicht hätte flüstern sehen?
    Denn Viola, die junge Frau in dem Buch, war zweifellos Vivien. Das sagten ihr nicht nur die biografischen Übereinstimmungen, sondern vor allem die Beschreibung der jungen Frau, die im Mondlicht am Teich stand, mit gekräuselten Lippen und katzenhaften Augen, wie sie den Blick auf etwas konzentrierte, das außer ihr niemand sehen konnte. Besser hätte Dolly Vivien nicht beschreiben können, wie sie sie von Lady Gwendolyns Fenster aus sah.
    Sie trat näher an den Spiegel. In der Stille des Bads konnte sie ihren eigenen Atem hören. Wie mochte es für Vivien gewesen sein, zu wissen, dass sie einen Mann wie Henry Jenkins, älter und erfahrener als sie, der in den vornehmsten gesellschaftlichen Kreisen verkehrte, so hatte bezaubern können? Sie musste sich wie eine echte Prinzessin gefühlt haben, als er um ihre Hand angehalten und sie aus ihrem eintönigen Leben nach London entführt hatte, wo sie von einem ungestümen jungen Mädchen zu einer perlengeschmückten und nach Chanel No. 5 duftenden Schönheit erblüht war, die am Arm ihres Mannes in den mondänsten Klubs und edelsten Restaurants Hof hielt. Das war die Vivien, die Dolly kannte; und die, so vermutete sie, der sie eher ähnelte.
    Es klopfte an der Tür. »Lebst du noch?« Dolly zuckte zusammen, als sie Kittys Stimme hörte.
    »Ja«, rief sie.
    »Da bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon, du wärst ertrunken.«
    »Nein.«
    »Brauchst du noch lange?«
    »Nein.«
    »Es ist schon fast halb neun, Doll, und ich bin mit einem netten Kerl von der Luftwaffe im Caribbean Club verabredet. Er ist am Stützpunkt Biggin Hill stationiert und hat heute Abend Ausgang. Hättest du vielleicht Lust, tanzen zu gehen? Er meinte, er bringt ein paar Kameraden mit. Einer hat nach dir gefragt.«
    »Heute Abend nicht.«
    »Die sind von der Luftwaffe, Doll, hast du das mitgekriegt? Wirklich fesche Jungs.«
    »So einen hab ich schon, hast du das vergessen? Außerdem hab ich heute Schichtdienst in der Kantine.«
    »Die Witwen und alten Jungfern können doch bestimmt mal einen Abend ohne dich auskommen, oder?«
    Als Dolly nicht antwortete, sagte Kitty nach einer Weile: »Na ja, wenn du dir wirklich sicher bist. Louisa reißt sich darum, deinen Platz einzunehmen.«
    Als wenn sie das könnte. »Viel Spaß«, rief Dolly, dann wartete sie, bis Kittys Schritte verklungen waren.
    Erst als sie hörte, wie die anderen die Treppe hinunterliefen, knotete sie ihr Kopftuch auf. Sie würde sich die Haare später noch einmal neu aufdrehen müssen, aber das war ihr egal. Einen nach dem anderen löste sie die Lockenwickler aus ihrem Haar und warf sie ins leere Waschbecken. Anschließend kämmte sie sich die Haare mit den Fingern und drapierte die weichen Locken um ihre Schultern.
    So. Sie drehte den Kopf hin und her, begann leise zu flüstern (sie kannte zwar keine Gedichte, aber den Text von »Chattanooga Choo Choo«, das musste reichen);

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