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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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angesprochen hatte, wartete auf eine Reaktion, und plötzlich sah Jimmy seinen Vater vor sich, der in seinem gestreiften Schlafanzug zu Hause in der Küche saß, die Wände ihrer Wohnung mit der ausgeblichenen grünen Tapete, Finchie in seinem Käfig mit den Kekskrümeln. Er spürte Dollys Blick auf sich. Sie erwartete, dass er seinen Part spielte, aber er empfand die ganze Maskerade als demütigend. Es kam ihm wie ein Verrat an seinem armen alten Vater vor, der daheim auf eine Frau wartete, die nicht mehr zurückkehren würde, und auf einen Bruder, der seit fünfundzwanzig Jahren tot war, und der, als sie nach London gekommen waren, beim Betreten der schäbigen Wohnung gesagt hatte: »Sehr hübsch, Jimmy. Das hast du sehr gut gemacht, mein Junge – deine Mum und dein Dad sind mächtig stolz auf dich.«
    Er sah zu Dolly hinüber. Ihre Spiele machten ihn wahnsinnig, nicht zuletzt, weil sie die Kluft zwischen dem, was Dolly vom Leben erwartete, und dem, was er ihr bieten konnte, nur noch vergrößerten. Gleichzeitig war ihm klar, dass ihre Spiele im Grunde harmlos waren. Niemand würde zu Schaden kommen, weil Jimmy Metcalfe und Dorothy Smitham sich einen Abend lang auf der anderen Seite einer roten Kordel amüsierten. Und sie wünschte es sich so sehr, sie hatte sich so viel Mühe gegeben mit dem Kleid und allem, hatte ihn sogar überredet, einen Anzug zu tragen – ihre Augen waren trotz all der Schminke so groß und erwartungsvoll wie die eines Kindes, und er liebte sie so sehr, dass er es nicht ertragen konnte, ihr den Spaß zu verderben, bloß weil er sich in seinem Stolz verletzt fühlte. Er gab sich einen Ruck und wandte sich dem Mann zu.
    »Mr. Rossi«, sagte er mit einem breiten Lächeln und schüttelte dem Italiener kräftig die Hand. »Hocherfreut, Sie wiederzusehen, alter Knabe.« Es war das Einzige, was ihm auf die Schnelle einfiel, und er konnte nur inständig hoffen, dass er damit durchkam.
    Nachdem sie ins Allerheiligste vorgedrungen waren, hatte Dolly zunächst keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Weil ihr nichts Besseres einfiel, nahm sie zwei Gläser Champagner vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners und zog Jimmy zu einer mit Plüsch bezogenen Sitznische an der Wand. Wenn sie ehrlich war, reichte es ihr schon, zusehen zu dürfen: Das sich unablässig drehende Karussell aus farbenprächtigen Kleidern und lächelnden Gesichtern reichte aus, um sie in Bann zu schlagen. Ein Kellner kam, um sie zu fragen, was sie essen woll ten. Dolly bestellte Rührei mit Speck. Das Essen wurde sogleich serviert, ihre Champagnerflöte schien sich überhaupt nicht zu leeren, und die Musik spielte ohne Unterlass.
    »Es ist wie ein Traum, nicht wahr?«, sagte sie strahlend. »Sind sie nicht alle wunderbar ?«
    Jimmy, der gerade ein Streichholz angezündet hatte, murmelte nur: »Sicher.« Dann ließ er das brennende Streichholz in einen Aschenbecher aus Messing fallen und zog an seiner Zigarette. »Aber erzähl doch mal von dir, Doll. Wie geht’s Lady Gwendolyn? Immer noch dieselbe alte Schreckschraube?«
    »Jimmy, so darfst du nicht von ihr reden. Ich weiß, anfangs hab ich mich ein wenig beklagt, aber sie ist wirklich ganz liebenswert, wenn man sie erst mal kennengelernt hat. In letzter Zeit will sie mich ständig um sich haben – wir sind auf unsere Weise regelrecht Freundinnen geworden.« Dolly beugte sich vor, damit Jimmy ihr Feuer geben konnte. »Ihr Neffe fürchtet, sie könnte ihr Testament ändern und mir ihre Villa vererben.«
    »Wer hat dir das erzählt?«
    »Dr. Rufus.«
    Jimmy schnaubte. Er mochte es nicht, wenn sie Dr. Rufus erwähnte; egal wie oft Dolly ihm versicherte, der Mann sei ein Freund ihres Vaters und viel zu alt, um sich auf diese Weise für sie zu interessieren, beeilte Jimmy sich jedes Mal, das Thema zu wechseln. Jetzt nahm er über den Tisch hinweg ihre Hand und sagte: »Und Kitty? Wie geht es ihr?«
    »Ach, Kitty …« Dolly musste an das dumme Gerede über Vivien und deren angeblichen Liebhaber denken, über das sie sich vor ein paar Tagen so geärgert hatte. »Sie ist quietschfidel – aber das ist ja typisch für ihre Sorte.«
    »Ihre Sorte?«, wiederholte Jimmy mit hochgezogenen Brauen.
    »Ich finde einfach, sie sollte sich mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, statt sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen. Aber manche Leute können eben nicht anders.« Sie schaute Jimmy an. »Ich glaube, sie würde dir nicht gefallen.«
    »Nein?«
    Dolly schüttelte den Kopf und zog an

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