Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihrer Zigarette. »Sie ist eine Klatschbase mit einem ausgesprochenen Hang zum Liederlichen.«
»Zum Liederlichen?« Jimmy musste grinsen. »Ach du meine Güte.«
Aber es war ihr ernst – es kam immer häufiger vor, dass Kitty nach Einbruch der Dunkelheit Männer ins Haus schmuggelte. Sie glaubte, Dolly würde das nicht bemerken, aber bei dem Lärm, den sie veranstalteten, hätte man schon taub sein müssen, um nichts davon mitzubekommen. »Ja, allerdings«, sagte sie. Eine einzelne Kerze flackerte auf dem Tisch vor ihnen, und Dolly drehte sie gedankenverloren hin und her.
Von Vivien hatte sie Jimmy noch nichts erzählt. Sie wusste eigentlich selbst nicht, warum. Nicht dass sie fürchtete, Vivien würde ihm nicht gefallen, gewiss nicht, es war eher so, dass sie das Bedürfnis hatte, die aufkeimende Freundschaft wie ein Geheimnis zu hüten, etwas, das ihr allein gehörte. Aber heute Abend, wo er ihr endlich wieder leibhaftig gegenübersaß, wo sie vom Champagner ein bisschen beschwipst war, verspürte sie den Drang, ihm alles zu erzählen. »Übrigens«, sagte sie, plötzlich befangen, »ich weiß nicht, ob ich das in meinen Briefen erwähnt habe, aber ich habe eine neue Freundin.«
»Ach?«
»Ja, sie heißt Vivien.« Allein den Namen auszusprechen ließ sie vor Glück erschaudern. »Sie ist mit Henry Jenkins verheiratet – du weißt schon, der Schriftsteller. Sie wohnen bei uns gegenüber, in der Nummer 25, und wir haben einander sehr ins Herz geschlossen.«
»Tatsächlich?« Jimmy lachte. »Das ist ja ein Zufall: Ich habe gerade ein Buch von ihm gelesen.«
Dolly hätte ihn fragen können, welches, aber das tat sie nicht, weil sie ihm gar nicht richtig zuhörte: Es gab so vieles, was sie ihm über Vivien erzählen wollte, was sie schon viel zu lange für sich behalten hatte. »Sie ist etwas ganz Besonderes, Jimmy. Schön, natürlich, aber nicht auf gewöhnliche, auffällige Art; und großherzig. Sie ist auch beim Frauenfreiwilligendienst aktiv – ich hab dir doch von der Kantine für Zivilhelfer erzählt, die wir eingerichtet haben, oder …? Und sie weiß auch, was mit meiner Familie passiert ist, in Coventry, und versteht, was das für mich bedeutet. Sie ist selbst als Waise aufgewachsen, ein Onkel hat sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufge nommen, in einem altehrwürdigen Internat auf dem Familienanwesen in der Nähe von Oxford. Hab ich erwähnt, dass sie eine reiche Erbin ist? Das Haus in der Campden Grove gehört ihr, nicht ihrem Mann …« Dolly holte tief Luft. »Nicht dass sie damit prahlt, so ist sie nicht …«
»Scheint ja eine eindrucksvolle Frau zu sein.«
»Ja, das ist sie.«
»Ich würde sie gern einmal kennenlernen.«
»N-na ja«, stotterte Dolly, »sicher … demnächst.« Sie zog heftig an ihrer Zigarette und fragte sich, warum die Vorstellung ihr Angst machte. Dass Vivien und Jimmy sich kennenlernten, gehörte nicht zu den Zukunftsszenarien, die sie sich ausgemalt hatte; erstens war Vivien extrem zurückhaltend, und zweitens war Jimmy – na ja, eben Jimmy. Sehr aufmerksam, liebenswürdig und klug – aber nicht unbedingt der Typ Mann, der Vivien gefallen würde, zumindest nicht als Dollys Freund. Vivien war nicht herzlos, das nicht, sie gehörte einfach einer anderen Schicht an als sie beide, aber seit Lady Gwendolyn Dolly unter ihre Fittiche genommen hatte, hatte sie von der alten Dame genug gelernt, um von einer Frau wie Vivien akzeptiert zu werden. Es widerstrebte ihr, Jimmy zu belügen, denn sie liebte ihn; aber sie würde sich hüten, seine Gefühle zu verletzen, indem sie ihm die Wahrheit unter die Nase rieb. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und zupfte eine Fluse von seinem Revers. »Im Moment hält der Krieg uns alle so in Atem, nicht wahr? Da bleibt kaum Zeit, sich mit Freunden zu treffen.«
»Ich könnte ja …«
»Oh, hörst du das, Jimmy – sie spielen unser Stück! Wollen wir tanzen? Komm, lass uns tanzen!«
Ihr Haar duftete nach Parfüm, ein betörender Duft, den er schon bei ihrer Begrüßung wahrgenommen hatte, beinahe schockie rend in seiner verheißungsvollen Intensität, und Jimmy wünsch te, sie könnten ewig so verharren, seine Hand an ihrem Rücken, ihre Wange an seine geschmiegt, während ihre Körper sich sanft zur Musik bewegten. Er war versucht zu vergessen, wie ausweichend sie auf seinen Wunsch reagiert hatte, ihre neue Freundin kennenzulernen, wie ihm plötzlich der Gedanke gekommen war, dass die Distanz, die sich zwischen ihnen gebildet hatte,
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