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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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erinnern.«
    »Und du?«, fragte Alex. »Was fehlt dir am meisten?«
    Kevin zuckte die Achseln. »Fernsehen, glaube ich«, sagte er. »Gutes Essen. Internet. Die Sonne fehlt mir eigentlich nicht besonders. Wenigstens krieg ich jetzt keine Sommersprossen mehr. Und dir?«
    Alex suchte nach einer Antwort, die kurz war und trotzdem aufrichtig. »Meine Familie«, sagte er schließlich.
    »War ’n blöde Frage«, erwiderte Kevin. »Das fehlt mir auch: das Gefühl, besonders schlau zu sein. Damit konnte ich früher eine Menge kompensieren.«
    »Ich auch«, sagte Alex.
    »Hast du jemals das Gefühl gehabt, dieses Leben hier wäre bloß ein Albtraum und eines Morgens würdest du aufwachen und alles wäre wieder wie früher?«, fragte Kevin.
    Alex schüttelte den Kopf.
    »Ich auch nicht«, sagte Kevin. »Aber meine Mutter hat es. Deshalb sorgt sie auch dafür, dass sie ständig betrunken ist, denn in nüchternem Zustand würde ihr einfallen, dass das hier die Realität ist. Ich kann nur hoffen, dass Harvey nicht so bald der Schnaps ausgeht. Wenn meine Mutter nüchtern bleiben müsste, würde sie sich wahrscheinlich umbringen.«
    »Tut mir leid«, sagte Alex. »Das ist sicher nicht leicht für dich.«
    »Schon in Ordnung«, erwiderte Kevin. »Ich wäre bestimmt auch ständig betrunken, wenn ich nicht auf sie aufpassen müsste.«
    Endlich bewegte sich die Warteschlange vorwärts. Eine Frau ein paar Meter vor ihnen brach bewusstlos zusammen. Alex und Kevin stiegen vorsichtig über sie hinweg.
    Als sie endlich ihre Tüten bekamen, reichte Kevin seine an Alex weiter. »Nicht viel drin heute«, sagte er.
    Alex sah nach. Pro Tüte eine Packung Reis, eine Dose rote Bohnen, eine mit Mischgemüse und zwei Dosen Tomatensuppe.
    »Vielleicht hat Harvey noch was für uns«, sagte er. »Bleibt es bei Montagmorgen?«
    »Das lass ich mir doch nicht entgehen«, sagte Kevin. »Sieben Uhr bei dir.«
    »Gut«, sagte Alex. »Ich bring das jetzt erst mal nach Hause. Wir sehen uns in der Schule.«
    »Klar«, sagte Kevin.
    »Ach, und, Kevin«, setzte Alex an.
    Kevin blieb stehen.
    »Ach nichts«, sagte Alex. »Aber danke noch mal, dass du hier mit mir in der Schlange stehst.«
    »Immer gern«, sagte Kevin. »Bis später.«
    Samstag, 3 . Dezember
    »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Bri an diesem Morgen. »Hört sich an, als würden Glassplitter vom Himmel fallen.«
    »Super«, sagte Alex. »Die haben uns gerade noch gefehlt.«
    Bri kicherte. »Du hörst dich schon an wie Julie«, sagte sie.
    »Und was wäre daran so schlimm?«, fragte Julie. »Alex, können wir nicht mal rausgucken? Ich will wissen, was da los ist.«
    Alex fielen zwei gute Gründe ein, die dagegensprachen. Erstens mussten sie mehrere Nägel aus der Wand ziehen, um überhaupt einen Teil der Decke vor dem Fenster beiseiteschieben zu können. Und zweitens wusste er genau, dass er gar nicht sehen wollte, was draußen los war. Strauße machen das ganz genau richtig, dachte er, während er sich aus Schlafsack und Decke pellte und in die Küche ging, um eine Zange zu holen. In der eisigen Luft konnte er seinen Atem sehen. Nur noch neun Tage, sagte er sich vor. Neun Tage müssen wir noch durchhalten.
    Julie und Bri drängten sich ans Fenster, als Alex die Decke anhob.
    Bri stieß ein Keuchen aus. »Da ist ja alles weiß.«
    »Eher grau«, meinte Julie. »Ich hab noch nie grauen Schnee gesehen.«
    Alex hatte geahnt, dass es ein Fehler sein würde, rauszuschauen. Die West 88 th Street war von Schnee bedeckt. Schwer zu sagen, wie hoch er lag, aber nach Alex’ Schätzung waren es mindestens zehn Zentimeter, wenn nicht mehr. Inzwischen hatte sich der Niederschlag in Regen verwandelt, der auf dem Schnee eine glänzende Eisschicht bildete.
    »Es muss gestern Abend angefangen haben, nachdem wir von der Schule zurück waren«, meinte Julie. »Ob Montag die Schule ausfällt?«
    »Warum sollte sie?«, fragte Alex zurück, während er rasch überschlug, wie viele Lebensmittel noch im Haus waren und wie lange sie damit auskommen würden, falls Julie und er nicht in der Schule zu Mittag essen konnten. »Wir müssen ja nicht mit dem Bus hinfahren.«
    »Früher fand ich Schnee immer toll«, sagte Bri. »Aber jetzt macht er wahrscheinlich alles nur noch schlimmer.«
    Da hat sie Recht, dachte Alex, während er auf die Straße hinunterstarrte. Es wäre auch so schon schwierig genug geworden, zu Fuß mit Bri zum Port Authority zu laufen. Aber jetzt lagen auch noch Schnee und Eis auf den Straßen, und

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