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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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kam, war »Bitte, lieber Gott, lass mich etwas zu essen finden«. Er stieg über Harveys Leiche hinweg und fing an zu suchen.
    Der vordere Teil des Ladens war vollkommen leer. Verzweifelt riss Alex die Tür zum Badezimmer auf. Er fand ein paar Kerzen auf dem Waschbeckenrand und zwei große Kartons auf dem Klodeckel.
    Der obere Karton enthielt nur Kleidung, so verdreckt, dass Alex sie kaum anfassen mochte. Er warf den Karton auf den Boden und öffnete den zweiten. Dieser war halb voll mit Lebensmitteln. Zwei Packungen Reis, sechs Dosen rote Bohnen, zwei mit schwarzen, vier Dosen Spinat, zwei mit grünen Erbsen, eine mit Möhren, drei mit Mischgemüse und eine Büchse Sardinen.
    Wenn sie sparsam damit umgingen, konnte das bis zum 26 . reichen. Die Sardinen würden sie sich für Weihnachten aufheben.
    Alex wusste, dass er schnell handeln musste. Er war nicht der einzige Mensch auf der Upper West Side, der dringend Lebensmittel brauchte. Er zog ein Hemd aus dem anderen Karton, stopfte die Dosen, den Reis und Kerzen hinein und knotete die Ärmel zusammen. Dann öffnete er die oberen Knöpfe seines Mantels, schob das Bündel hinein und knöpfte den Mantel wieder zu. Kein besonders gutes Versteck, aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihm auf dem Heimweg irgendein menschliches Wesen begegnen würde, musste das reichen.
    Er ging in den vorderen Teil des Ladens zurück und warf einen kurzen Blick auf Harveys Leiche. »Sobald ich zu Hause bin, werde ich für deine Seele beten«, versprach er. Dann öffnete er die Tür, schaute die leere Straße hinauf und hinunter, bewaffnete sich mit der spitzesten Glasscherbe, die er finden konnte, und machte sich auf den Weg, zurück in die sichere Wohnung.

 
    ACHTZEHN
    Samstag, 17 . Dezember
    »Alex, was machst du denn da?«
    »Mir den Mantel ausziehen«, sagte Alex. »Es ist furchtbar heiß hier drin. Ich mach gleich mal ein Fenster auf.«
    »Alex, hier drin ist es eiskalt. Alex? Alex, sag doch was. Bri! Bri, komm schnell! Alex ist zusammengebrochen!«
    Sonntag, 18 . Dezember
    »Alex, trink das hier. Alex, du musst das runterschlucken.«
    »Mamá?« Wann war Mamá denn nach Hause gekommen? Sie war doch bei der Arbeit, bei ihrem neuen Job. Wieso war sie jetzt zu Hause? Und warum war er nicht in der Schule? Für schneefrei war es doch viel zu heiß. Mindestens vierzig Grad im Schatten.
    »Er hat sich schon wieder aufgedeckt. Julie, hilf mir mal.«
    »Nein!«, sagte Alex. »Nicht, Mamá. Mir ist viel zu heiß.«
    »Alles wird gut, Alex«, sagte Mamá, aber sie klang gar nicht wie Mamá. Sie klang eher wie Bri. Aber Bri hustete gerade. Bri musste viel zu viel husten. Papá musste nie husten. Ein Mann hustete nicht. Alex würde genau so ein Mann werden wie Papá. Er würde niemals husten.
    »Julie, kannst du ihn festhalten, während ich ihm die Suppe einflöße?«
    Alex lachte. Julie sollte ihn festhalten? Papá konnte das, aber doch nicht Julie. Wo war Papá überhaupt? Er war fortgegangen, vor langer Zeit, aber inzwischen müsste er eigentlich zurück sein. Apartment 12 B hatte ein Problem mit dem Abfluss. Papá sollte das in Ordnung bringen. Papá konnte alles in Ordnung bringen. Bestimmt auch den Mond.
    »Meinst du, es ist überhaupt was von dem Aspirin in seinem Magen gelandet?«
    »Doch, bestimmt. Halt still, Alex. Wir wollen doch nur dein Bestes.«
    Niemand hatte je Carlos’ Bestes gewollt. Carlos war immer schon gut genug, so wie er war. Er musste sich nie für irgendetwas anstrengen. Ebenso wenig wie Bri oder Julie, denn von Mädchen wurde sowieso nichts erwartet. Nein, nur Alex musste sein Bestes geben. Aber was er auch tat, es war nie gut genug. Stellvertretender Jahrgangssprecher. Stellvertretender Herausgeber. Klassenzweiter. Nie gut genug. Wie sollte er Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn er nur Klassenzweiter war?
    Er hatte es satt, der ewige Zweite zu sein. Er hatte es satt, immer wieder zu kämpfen und immer wieder zu verlieren. Ihm war zu heiß. Vielleicht war er gestorben und in der Hölle gelandet. Nur in der Hölle konnte es dermaßen heiß sein.
    Montag, 19 . Dezember
    Mamá wusch ihm mit einem kalten Waschlappen das Gesicht. »Nicht wieder einschlafen, Alex«, sagte sie. »Bleib jetzt wach, bitte, Alex.«
    Schlafen? Wie sollte er bei dieser Kälte schlafen? Warum war die Heizung nicht an? »Papá, mir ist kalt.«
    »Leg ihm noch eine Decke über«, sagte Bri. »Nimm eine von unseren.«
    Was sollte sie nehmen? Und wer hatte ihn in diese Schneewehe

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