Die Verlorenen von New York
Regenfällen am Donnerstag herrühren.
New Jersey auf der anderen Flussseite war ebenfalls noch dort, wo es hingehörte. Falls auch Flüsse Gezeiten hatten – Alex musste zugeben, dass er das nicht so genau wusste –, dann schienen sie hier jedenfalls nicht allzu stark zu sein.
Er machte kehrt und schlug den Weg zur Kirche ein. Der Verkehr hatte im Vergleich zu den vergangenen Tagen stark nachgelassen und es waren nur wenige Leute auf der Straße, aber aus den Wohnhäusern hörte man dafür umso mehr. Alex grinste. Normalerweise stellten die Leute bei einer solchen Hitze die Klimaanlage an, aber wegen des Stromausfalls hatten sie stattdessen die Fenster geöffnet. Er hörte sie zanken und lachen und schimpfen und sogar, dass irgendwo jemand Sex hatte – viele Geräusche klangen wie in dem Viertel, wo Onkel Jimmy wohnte, nur sprachen die Leute hier Englisch statt Spanisch.
Im Gegensatz zu dieser Geräuschkulisse wirkte der Broadway geradezu totenstill. Anscheinend war immer noch alles geschlossen, nicht nur der Supermarkt, auch der Coffeeshop, der Kiosk, der koreanische Lebensmittelladen, die Reinigung, der Waschsalon, das Spirituosengeschäft, der Blumenhändler, der China-Imbiss und das Kino. Ein paar Polizisten waren zu sehen, aber nur wenige Passanten. Selbst die Rettungswagen hatten ihre Fahrten nach downtown offenbar eingestellt.
Zum Glück war es in der Kirche dann ein bisschen belebter. Das Schwarze Brett wurde geradezu belagert und es dauerte einen Moment, bis Alex nah genug herankam, um die Mitteilungen lesen zu können.
Es gab so viele davon, dass auch die Wand rund um das Brett mit einbezogen worden war, aber als Erstes fiel ihm die Liste der Toten ins Auge. So viele Namen waren es eigentlich gar nicht: zwei Seiten voll, einzeilig beschrieben, mit jeweils drei Spalten, alphabetisch geordnet.
Alex zwang sich, unter M nachzusehen. Es war niemand mit dem Namen Morales dabei. Vor Erleichterung wurden ihm die Knie weich. Solange Mamá nicht auf der Liste stand, gab es keinen Grund zu glauben, sie sei tot. Das war doch immerhin etwas, das er seinen Schwestern erzählen konnte.
»Nicht sehr viele Namen«, sagte ein Mann, der ebenfalls die Liste durchging.
»Ein Großteil der Leichen kann gar nicht identifiziert werden«, erklärte ein anderer. »Viele wurden aufs Meer hinausgespült. Und aus der U-Bahn haben sie auch noch nicht alle Opfer geborgen. Suchen Sie jemand Bestimmten?«
»Nein«, sagte der erste. »Oder doch, ein paar Leute schon. Aber keine Verwandten. Und Sie?«
Der zweite Mann schüttelte den Kopf. »Ein Freund von uns wird vermisst, sonst niemand. Wir haben Glück gehabt.«
Neben der Liste der Toten entdeckte Alex ein paar Zettel, auf denen handschriftlich eine Reihe von Namen und Telefonnummern notiert war.
WER WEISS ETWAS ÜBER DEN VERBLEIB
DIESER PERSONEN?
Bitte den Namen eintragen, den letzten bekannten Aufenthaltsort sowie eine Telefonnummer für Rückfragen oder Informationen.
Alex unterdrückte das Zittern seiner Hand, während er die Namen seiner Eltern eintrug, wobei er neben den seines Vaters Puerto Rico und neben den seiner Mutter U-Bahn-Linie 7 schrieb. Er gab ihre Telefonnummer von zu Hause an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass nicht ausgerechnet seine Schwestern ans Telefon gehen würden, falls jemand mit schlechten Nachrichten anrief.
Der erste Mann sah zu Alex hinüber und las, was er geschrieben hatte. »Deine Eltern?«, fragte er.
Alex nickte nur, weil er befürchtete, dass ihm die Stimme versagen würde.
»Kommst du zurecht?«, fragte der Mann. »Hast du jemand, der sich um dich kümmert?«
Alex nickte wieder.
»Puerto Rico«, las der zweite Mann. »Inland oder Küste?«
»Küste«, presste Alex mühsam hervor.
Der zweite Mann schüttelte den Kopf. »San Juan hat’s böse erwischt«, sagte er. »Die gesamte Küste. Ich werde für dich und deine Familie beten.«
»Ich auch«, sagte der erste Mann und legte Alex behutsam eine Hand auf die Schulter. »Und falls du Hilfe brauchst: Hier in St. Margaret’s ist immer jemand für dich da. Wir sind alle eine Familie.«
»Ich weiß«, sagte Alex. »Vielen Dank.«
Die beiden Männer wandten sich zum Gehen, und sofort nahmen zwei andere ihren Platz ein. Alex überflog die übrigen Mitteilungen an der Anschlagtafel. Der Montag war zum nationalen Trauertag erklärt worden, am Dienstag sollte die Schule wieder beginnen. Die Ausgangssperre galt unverändert. Bis auf weiteres wurde jeden Abend um sechs eine
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