Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
Vom Netzwerk:
sind, müssten Sie doch eigentlich auch wissen, wann Sie wieder gesund sein werden«, erwiderte er.
    »Ich bin morgen nicht krank«, sagte Alex. »Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit.«
    »Das ist wohl kaum ein akzeptabler Grund«, sagte Pater Mulrooney. »Jeder von uns hat ›persönliche Angelegenheiten‹, wie Sie das so hochtrabend nennen. Aber die Schule geht vor, auch und gerade in Zeiten wie diesen. Ich weiß es zwar zu schätzen, dass Sie erst noch die Erlaubnis zum Schwänzen einholen wollen, aber ich kann sie Ihnen leider nicht erteilen.«
    Alex schluckte seinen Ärger hinunter. »Ich fahre morgen zum Yankee-Stadion«, sagte er. »Ich habe einen Platz im Bus reserviert. Im Stadion sind die noch nicht identifizierten Frauenleichen aufgebahrt. Meine Mutter ist seit Mittwoch verschwunden, und ich will dort nach ihr suchen.« Er starrte Pater Mulrooney herausfordernd an.
    »Verstehe«, sagte dieser nur. »Und es gibt niemand anderen in Ihrer Familie, der das übernehmen kann?«
    »Nein, Pater«, antwortete Alex.
    »Also gut«, sagte Pater Mulrooney. »Ich danke Ihnen für die Abmeldung, Mr Morales. Sollten Sie es nicht mehr rechtzeitig zum Nachmittagsunterricht schaffen, sind Sie auch dafür entschuldigt.«
    »Danke, Pater«, sagte Alex.
    Pater Mulrooney nickte. »Ich erwarte Sie dann am Freitag wieder in der Schule«, sagte er. »Es sei denn …«
    Es sei denn, Mamá ist tot, dachte Alex. Es sei denn, ich finde ihre Leiche zwischen all den namenlosen Toten.
    »Ja, Pater«, sagte er. »Es sei denn …«
    Donnerstag, 26 . Mai
    Am Donnerstagmorgen brach Alex ungefähr zur gleichen Zeit zum Busbahnhof in der 42 nd Street auf, wie er sonst zur Schule losging – viel früher als nötig, aber er wollte auf keinen Fall riskieren, den Bus zu verpassen.
    Bri und Julie gegenüber hatte er nichts von seinen Plänen erwähnt, sondern so getan, als ginge er tatsächlich zur Schule. Wenn er Mamá im Stadion fand, würde er es ihnen natürlich erzählen. Für den Fall, dass sie nicht dort lag, wusste er noch nicht, was er sagen würde. Sie konnten dann weiterhin hoffen, aber ihm war noch nicht klar, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
    New York war zwar keine Geisterstadt mehr, aber viele Lebenszeichen gab es nicht. Busse, Polizei- und Rettungswagen kamen zügig voran – keine Laster, keine Autos, keine Horden von Fußgängern hielten sie auf. Die meisten Geschäfte waren nach wie vor geschlossen, die Stahlgitter heruntergelassen, um das wenige zu schützen, was von den Plünderungen verschont geblieben war. Je weiter er nach downtown kam, desto mehr Polizisten waren zu sehen. Sie wirkten teilnahmslos und gelangweilt, als wüssten sie nicht so recht, was sie hier eigentlich beschützen sollten.
    Das Wetter war schön, aber keiner der Passanten lächelte und man hörte auch kaum Gespräche. Die Leute gingen nur deshalb zu Fuß, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Sie hielten die Augen gesenkt, als wollten sie um jeden Preis vermeiden, den Blicken der anderen zu begegnen.
    In der Ferne ragte das Empire State Building auf, und sein Anblick tröstete Alex ein wenig. Er hatte gehört, dass die Freiheitsstatue ins Meer gespült worden war. Mit der Klasse hatten sie mal einen Ausflug dorthin unternommen. Auf dem Empire State Building war er allerdings noch nie gewesen. Er war froh, dass er das immer noch nachholen konnte.
    Beim Frühstück hatte er keinen Appetit gehabt, und obwohl ihre Vorräte noch lange nicht verbraucht waren, machte ihn die Frage, wann sie zur Neige gehen würden und was sie dann tun sollten, allmählich nervös. Der lange Marsch hatte ihn jedoch hungrig gemacht, und erst jetzt fiel ihm auf, dass es gar keine Straßenhändler mehr gab, bei denen man Brezeln, Hotdogs, gebrannte Nüsse oder Souflaki kaufen konnte. Seltsame Vorstellung, dass man in New York auf einmal keine komplette Mahlzeit mehr auf der Straße bekommen sollte.
    An der Kreuzung gegenüber dem Busbahnhof entdeckte er schließlich jemanden, der in Tüten abgepackte Nüsse verkaufte, aber dort standen mindestens fünfzig Leute Schlange. Nicht die Mühe wert, dachte Alex, als er das Gedränge und Geschubse sah. Auf dem Rückweg würde er schon irgendetwas finden.
    Die Warteschlange machte das Chaos, das rund um den Busbahnhof herrschte, endgültig perfekt. Es schien, als wolle sich ganz Manhattan gleichzeitig einen Weg ins Gebäude erkämpfen. Die Leute zerrten Kleinkinder hinter sich her oder Hunde oder Katzen in

Weitere Kostenlose Bücher