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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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braucht, informieren Sie den nächsten Polizeibeamten. Bleiben Sie auf keinen Fall stehen. Jede Zuwiderhandlung führt zum Stadionverweis. Das Verlassen der Reihe ist nur dann erlaubt, wenn Sie eine vermisste Person identifizieren können. Merken Sie sich, wer vor und hinter ihnen geht. Bleiben Sie immer zwischen diesen beiden Personen.«
    Alex musterte den Mann vor ihm und die Frau hinter ihm. Die Frau trug eine Sonnenbrille. Der Mann war fast kahl.
    Die Tür öffnete sich. »Hintereinanderbleiben! Nicht drängeln!«, rief der Beamte. Langsam schoben sich alle vorwärts, niemand drängelte. Drinnen ging es durch einen Flur und dann eine Treppe hinunter, die aufs Spielfeld hinausführte.
    Als Erstes wurde Alex von dem ohrenbetäubenden Lärm überwältigt, einer Kakofonie aus Schreien und Schluchzern. Dazwischen waren auch Flüche und Gebete zu hören, doch meist nur die Klagelaute unermesslichen Leids.
    Dann kam der Gestank, schlimmer als alles, was er je erlebt hatte – eine ekelerregende Mischung aus Schweiß, Erbrochenem und Verwesung. Das Menthol überdeckte den Geruch ein wenig, aber er musste trotzdem würgen und war froh, dass er an diesem Morgen noch nichts gegessen hatte. Der Geruch nach verwesendem Fleisch war so stark, dass er auf der Zunge zu schmecken war.
    Alex bot sich ein Bild, wie er es sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Wenn er den Blick hob, war er im Yankee-Stadion mit seinen endlosen, leeren Sitzreihen. Aber sobald er ihn senkte, war er in der Hölle.
    Alex bekreuzigte sich und betete um Kraft. Das gesamte Spielfeld war mit Leichen bedeckt. Dicht an dicht lagen sie, in engen Reihen, zwischen denen gerade noch eine Person hindurchgehen konnte. Wie viele Tote mochten es sein? Hunderte? Tausende?
    Einige Leichen waren bekleidet, andere nackt. Die Nackten hatte man mit Tüchern bedeckt, aber ihre Arme schauten hervor und ihre Hände waren gut sichtbar ausgebreitet, Ringe glitzerten in der Sonne. Die Gesichter waren aufgedunsen, oft bis zur Unkenntlichkeit, und von Fliegen bedeckt, Millionen von Fliegen, deren Summen den Grundton all der Schreie und Klagen bildete. Seine Hölle war das Paradies der Fliegen.
    »Aufschließen! Nicht stehen bleiben! Wer die Reihe verlässt, wird aus dem Stadion entfernt.«
    Alex wünschte nichts sehnlicher, als aus dem Stadion entfernt zu werden, alles hinter sich zu lassen, die Bronx, New York, die ganze Erde, und in die tröstliche Leere des Weltalls hinausgeschleudert zu werden. Doch stattdessen konzentrierte er sich darauf, nach den Polizeiposten Ausschau zu halten. Es gab mehr als ein Dutzend davon, jeder mit mehreren Beamten und Sanitätern besetzt. Er entdeckte auch einige katholische Priester und andere Würdenträger – vermutlich evangelische, jüdische oder muslimische Geistliche.
    Und so, immer schön in der Reihe, begann Alex seinen Parcours durch den Tod. Bei den meisten Leichen sah er sofort, dass es nicht seine Mutter sein konnte. Sie waren schwarz oder weiß oder asiatisch. Zu jung oder zu alt, zu dick oder zu dünn. Sie hatten graues oder weißes oder blondes Haar, zu langes oder zu kurzes. Eine Frau, oder vielmehr ein junges Mädchen, hatte lila-grünes Haar. Eine andere war kahl, wie nach einer Chemotherapie. Eine dritte war schwanger. Viele von ihnen hatten die Augen offen und starrten zu dem Mond hinauf, der sie getötet hatte.
    Manchmal geriet die Reihe kurz ins Stocken, wenn jemand weiter vorn ein Gesicht, einen Körper oder ein Schmuckstück genauer betrachten musste. Und wenn ein geliebter Mensch gefunden worden war, zerriss ein gellender Schrei die Luft. Eine Frau irgendwo hinter Alex schrie »Heilige Muttergottes!«, woraus er schloss, dass sie die Gesuchte gefunden hatte, aber sie blieb noch bis zur nächsten Kehre in der Reihe und ging erst dann zum nächstgelegenen Polizeiposten.
    Alex verspürte einen Stich, den er erstaunt als Neid erkannte, und er hasste sich dafür. Alles war besser, als Mamá hier zu finden. Solange sie nur vermisst war, bestand immer noch die Chance, dass ihre Gebete erhört wurden und sie eines Tages zurückkehren würde. Aber wenn sie hier irgendwo lag …
    »Aufschließen! Nicht stehen bleiben!«
    Zwei Mal sah Alex eine Frau, die er im ersten Moment für seine Mutter hielt. Etwas an der Form ihres Gesichts, etwas an ihrer Hautfarbe ließ ihn erstarren. Aber die eine Frau trug einen diamantenbesetzten Verlobungsring, die andere eine Kette mit Davidstern. Bei genauerem Hinsehen

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