Die Verlorenen von New York
einem Mund, der aussah, als hätte er noch nie gelächelt.
»O Gott«, murmelte Kevin. »Ein echter Zombie.«
»Mein Name ist Pater Francis Patrick Xavier Mulrooney«, verkündete der Priester mit so eisiger Stimme, dass Alex trotz der Treibhausatmosphäre in der Kapelle ein Schauer über den Rücken lief. »Auf Grund der außergewöhnlichen Umstände hat mich die Erzdiözese aus dem Ruhestand zurückbeordert, um die kommissarische Leitung der St. Vincent de Paul Academy zu übernehmen. Die Patres Shea, Donelly und Delveccio wurden vorübergehend auf andere Posten berufen.«
Nicht einmal Pater Mulrooneys versteinerter Blick konnte die Schüler davon abhalten, diese Nachricht über das Ausscheiden der drei wichtigsten Mitglieder des Kollegiums – Pater Shea war immerhin Schulleiter und Pater Donelly sein Stellvertreter – mit aufgeregtem Getuschel zu quittieren.
»Ruhe!«, sagte Pater Mulrooney. »Zwei weitere Kollegen, Mr Davis und Mr Vanich, sind ebenfalls nicht mehr dabei. Ihre Stellen werden bis zum Ende des Schuljahres auch nicht neu besetzt. Solltet ihr Fragen zu euren Kursen haben, könnt ihr zu mir in die Sprechstunde kommen. Zusätzlich zu meiner Funktion als kommissarischer Schulleiter werde ich den Latein- und den Religionsunterricht übernehmen. Diese Fächer habe ich auch schon vor meinem Ruhestand an der St. Vincent de Paul Academy gelehrt. Vielleicht habe ich sogar den einen oder anderen eurer Väter unterrichtet.«
Meinen jedenfalls nicht, dachte Alex.
»Des Weiteren müssen wir auf zwei Erzieher und eine Küchenhilfe verzichten«, sagte Pater Mulrooney. »Eine weitere Küchenhilfe war bisher nicht zu erreichen, wir müssen also davon ausgehen, dass auch sie nicht mehr kommt. Angesichts des Personalmangels wird die Schülerschaft zusätzliche Aufgaben übernehmen müssen. Die Kurssprecher werden daher gebeten, sich nach der Messe in Zimmer 25 einzufinden, um die Neuverteilung der Aufgaben zu besprechen.«
Alex sah kurz zu Chris Flynn hinüber, der seinen Blick erwiderte und die Achseln zuckte.
»Die Erzdiözese ist der Überzeugung, dass die Ereignisse der letzten Tage nur ein Vorgeschmack dessen sind, was noch kommen wird«, fuhr Pater Mulrooney fort. »Wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, so unangenehm er auch sein mag, dass Entbehrung und Tod uns erwarten.« Dabei machte er ein so grimmiges Gesicht, dass einige der jüngeren Schüler in Tränen ausbrachen.
»Nehmt euch die frühen christlichen Märtyrer zum Vorbild«, fuhr Pater Mulrooney fort. »Unerschrocken gingen sie dem Tod entgegen, im sicheren Wissen um das ewige Leben.«
»Aber ihr Tod hatte wenigstens einen Sinn«, rief einer der jüngeren Schüler dazwischen.
»Ruhe!«, donnerte Pater Mulrooney. »Wir sind hier in einer Kapelle und nicht im Forum Romanum. Keiner von uns hat das Recht, Gottes Entscheidungen in Frage zu stellen.«
Selbst die Schüler, die gerade noch geweint hatten, waren plötzlich still, als wären Tränen soeben zur Sünde erklärt worden.
»Solange ich kommissarischer Schulleiter bin, ist die Teilnahme an der Morgenmesse für euch Pflicht«, sagte Pater Mulrooney. »Und eure Freistunden werdet ihr für den Rest dieser Woche hier in der Kapelle verbringen, zwecks innerer Einkehr und Gebet. A cruce salus. «
Alex fragte sich, ob Pater Mulrooney die Messe wohl auf Latein abhalten würde, doch stattdessen intonierte der Priester die gewohnten englischen Worte. Es tat gut, sie in dieser vertrauten Umgebung zu hören. Pater Mulrooney hatte Recht. Keinem von ihnen stand es zu, Gottes Weisheit in Frage zu stellen.
»Dein Wille geschehe«, flüsterte Alex leise. »Dein Wille geschehe.«
Mittwoch, 25 . Mai
Nach Unterrichtsschluss suchte Alex das Büro des Schulleiters auf. Keine der beiden Schreibkräfte, die dort sonst immer saßen, war zu sehen. Weil niemand da war, der ihm sagen konnte, was er tun sollte, klopfte er einfach an.
»Herein.«
Alex öffnete die Tür. Es war ein seltsames Gefühl, Pater Mulrooney hinter Pater Sheas Schreibtisch sitzen zu sehen. Alex wurde schlagartig bewusst, wie sehr er Pater Shea vermissen würde, der ihn immer unterstützt hatte wie sonst niemand, abgesehen von seiner Mutter.
»Verzeihung, Pater«, sagte Alex. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich morgen Vormittag nicht zur Schule kommen kann. Ob ich es nachmittags schaffe, weiß ich noch nicht.«
Pater Mulrooney hob seine eindrucksvollen Augenbrauen. »Wenn Sie jetzt schon wissen, dass Sie morgen krank
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